Wie das Internet unser Gehirn verändert
Wer bin ich, wenn ich online bin...
Bereits eine Online-Stunde am Tag, so zeigen neueste Studien, bewirkt tiefgreifende neurologische Prägungen in unserem Gehirn. Diese und andere erstaunliche Tatsachen über die Auswirkungen des Internets beschreibt ein neues Buch des amerikanischen Bestsellerautors Nicholas Carr.
8. April 2017, 21:58
Verlangen nach Information
"Ein Grund, warum wir so zwanghaft in unserem Gebrauch des Internets sein können und uns darin so verlieren, ist unser tief sitzendes primitives Verlangen nach immer neuen Informationen", meint der Nicholas Carr, der Autor des Buches, im Gespräch. "Und indem das Internet dieses Verlangen stillt, lässt es uns ständig auf Links klicken, Emails checken, Facebook checken. Es absorbiert unsere Aufmerksamkeit, zersplittert sie aber auch."
Dieses beständige Zersplittern und Zerstreuen unserer Aufmerksamkeit hat gravierende Konsequenzen. Nicholas Carr belegt dies in seinem Buch mit vielen spannenden und teils verstörenden Forschungsergebnissen, die er mit einer erhellenden Zeitreise durch Philosophie-, Technologie- und Wissenschaftsgeschichte ergänzt. Mit seinem Artikel "Macht Google uns dumm?" war der renommierte Wissenschaftsautor vor zwei Jahren der Erste, der die negativen Seiten des Internets thematisierte.
Zerstückeltes Denken
"Nachdem ich jahrelang Computer und Internet genutzt hatte, fiel mir auf, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich zu konzentrieren", so Carr. "Wenn ich mich hinsetzte, um ein Buch zu lesen, schweiften meine Gedanken schon nach ein oder zwei Seiten ab, auch wenn das Buch sehr gut war. Ich begriff, mein Gehirn verhielt sich so, als wäre ich online - es wollte von einem Stück Information zum nächsten springen. Und mir wurde klar, das Internet hatte mich tatsächlich gelehrt, auf seine Weise zu denken – eben in dieser zerstückelten, sehr schnellen Art."
Dadurch, so führt Nicholas Carr aus, verhindere das Internet jedoch, dass Informationen von unserem Kurzzeit- in unser Langzeitgedächtnis weitergeleitet werden. Das Kurzzeitgedächtnis, auch "Arbeitsgedächtnis" genannt, beinhaltet alles, was wir bewusst aufnehmen, und kann nur wenige Elemente für kurze Zeit speichern. Erst das Langzeitgedächtnis wandelt Informationen und Erfahrungen in erinnertes Wissen um, das uns noch nach Tagen, Monaten oder Jahren – oder unser Leben lang erhalten bleibt.
"Der einzige Weg, komplexe Zusammenhänge zu begreifen und tiefgreifende Gedanken zu formen, ist es, Informationen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis weiter zu leiten. Aber wenn wir beständig abgelenkt sind, leiden wir unter einer 'kognitiven Überlastung', wie Psychologen es nennen", meint Carr. "Das heißt, Informationen passieren unser Kurzzeitgedächtnis zu schnell, um ins Langzeitgedächtnis zu gelangen. Als Ergebnis davon bleibt unser Denken, Wissen und Verstehen seicht und erreicht keine Tiefe."
Suchmaschinen engen ein
Nicholas Carr leugnet die Vorteile des Internets nicht, macht aber klar: Wenn wir das Internet nach Informationen, sozialen Kontakten oder Unterhaltung durchforsten, verwenden wir einen Großteil unserer geistigen Energie auf die Beherrschung des Mediums selbst und machen uns um die Inhalte, buchstäblich, keine Gedanken.
Die Annahme, das Internet steigere unsere Produktivität, trifft nur insoweit zu, als dass das Web uns ermöglicht, mehr Informationen in kürzerer Zeit zu sammeln. Wer allerdings denkt, Zugang zu mehr Wissen bedeute automatisch auch mehr Wissen, der irrt. So das Ergebnis einer aktuellen Studie an der Universität von Chicago:
"Die Forscher fanden, je mehr Menschen im akademischen Bereich Online-Quellen nutzten, desto weniger Quellen zitierten sie in ihren Arbeiten", sagt Carr. "Da Suchmaschinen wie Google im Grunde eine Beliebtheitsskala reflektieren, landen alle nur noch bei einer Auswahl von Informationen - denjenigen an der Spitze der Suchergebnisse. So kann eine Suchmaschine die Informationen, die wir erhalten, einengen anstatt uns zu einer Vielfalt an Forschungsinhalten zu führen."
Leicht ablenkbare Multi-Tasker
Nicholas Carr räumt in seinem Buch auch noch mit einem weiteren Paradox des Internets auf: Das als Wundermittel der Effizienz viel beschworene "Multi-Tasking" kann im Gegenteil äußerst kontraproduktiv sein, wie Forscher an der Stanford Universität herausfanden.
"Sie führten verschiedene kognitive Tests durch mit einer Gruppe von Menschen, die sehr viel Multi-Tasking machen, und mit einer Gruppe, die kein Multi-Tasking macht", erläutert Carr. "Sie fanden, dass die Multi-Tasker schlechter wichtige Informationen von unwichtigen trennen konnten. Ein Forscher notierte, dass diese Gruppe sich in der Tat sehr leicht ablenken ließ. Je mehr wir rasch von einer Aufgabe zur nächsten springen, desto weniger können wir anscheinend Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Wir greifen nach allem, was uns in den Weg kommt."
Seichte Gedanken, seichte Gefühle?
Wie einst der Buchdruck, der uns ermöglichte, Geschichten auf gedrucktem Papier zu lesen, wird das digitale Lesen im Internet voraussichtlich auch unser Sprechen und Denken verändern.
"Wenn Menschen ihre Lesegewohnheiten verändern, ändern Schriftsteller ihren Schreibstil", meint Carr. "Nach der Erfindung der Druckerpresse, als dicke Wälzer plötzlich beliebt wurden, kam es zu einer wahren Explosion von literarischen Innovationen und Experimenten. Die Schriftsteller konnten davon ausgehen, dass die Leser ihnen Aufmerksamkeit schenkten. Das Internet bewirkt meines Erachtens das Gegenteil, denn Schreiber müssen von einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne der Leser ausgehen und werden ihre Sätze verkürzen. In der Folge werden wir unsere Ausdrucksweise vereinfachen - und letztendlich auch unsere Gedanken."
Das Internet könnte womöglich sogar unsere Fähigkeit beeinträchtigen, tiefe Gefühle und Mitgefühl zu entwickeln, meint Nicholas Carr: "Einige Hirnforschungen zeigen, dass sich unsere feinfühligsten Emotionen über relativ langsame mentale Prozesse entwickeln. Sollte dies stimmen, befürchten die Wissenschaftler: Wenn wir beständig abgelenkt sind, und unsere Aufmerksamkeit ständig abschweift, dann könnten am Ende nicht nur unsere Gedanken seicht sein. Wir könnten auch seichtere Gefühle haben und unseren Reichtum an emotionalem Erleben verlieren - Mitgefühl zum Beispiel."
Beeinflussung des sozialen Lebens
Nicholas Carr will das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Er plädiert jedoch vehement für einen veränderten Umgang mit dem Internet. Dazu gehörten, so sein Appell, regelmäßige Zeiten der Internet-Abstinenz. Auch einfach Zeit in Ruhe, alleine oder mit nur wenigen anderen Menschen zu verbringen, hätte wissenschaftlich erwiesen einen heilsamen Effekt auf Geist und Körper.
Zugleich macht der Autor deutlich: Es geht um mehr als nur um Selbstdisziplin und eine individuelle Entscheidung: "Andere populäre Technologien sind inzwischen auch sehr tief in das Gespinst unserer Gesellschaft eingewoben. Und so wird von uns inzwischen in unserem Arbeitsleben zunehmend erwartet, dass wir immer verbunden sind, dass wir immerzu E-Mails checken und Informationen austauschen. Das gilt sogar für das soziale Leben, insbesondere bei jungen Leuten. Wenn deine Freunde ihr Leben durch SMS, Facebook und Twitter verorten, ist es schwer, sich abzuschalten. Man fühlt sich sozial isoliert."
Zeit für Kritik
Von den Anpassungsleistungen unseres Gehirns, davon ist Nicholas Carr überzeugt, profitieren letztendlich nicht wir, sondern vor allem die Konzerne, die mit Klickzahlen Kasse machen. Zwanzig Jahre nach Entstehen des World Wide Web plädiert er deshalb mit seinem Buch dafür, das Internet in einem größeren kulturgeschichtlichen wie gesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen.
"Als Individuen wie als Gesellschaft müssen wir uns bewusst sein, dass wir vielleicht Wertvolles in Bezug auf unseren Geist und uns selbst verlieren, wenn wir so viel Zeit online verbringen", so Carr. "Das Internet hat uns in den letzten zwanzig Jahren quasi verführt. Nun ist die Zeit gekommen, es kritischer zu betrachten."
Service
Nicholas Carr, "Wer bin ich, wenn ich online bin... und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Gehirn verändert", aus dem Amerikanischen übersetzt von Henning Dedekind, Blessing Verlag
Blessing Verlag - Wer bin ich, wenn ich online bin...