Die inneren Werte der NS-Gemeinschaft

Anständig geblieben

Worin bestand die nationalsozialistische Moral? Der Historiker Raphael Gross, Leiter des Leo Baeck Institutes in London, versucht sich in einer Beschreibung der Werte, die die nationalsozialistische Gemeinschaft zusammengehalten haben.

Anhaltender Enthusiasmus - warum?

Die Aufgabe, die sich Raphael Gross gestellt hat, ist schwierig und auch riskant. In einer beschreibenden Sichtweise soll die nicht apostrophierte nationalsozialistische Moral einer Überprüfung mit Hinblick darauf überzogen werden, über welche inneren Werte die NS Gemeinschaft zusammen gehalten wurde und was davon noch in die Verarbeitung des Nationalsozialismus eingeflossen ist.

Damit möchte der Autor einen Bereich der NS-Forschung beleben, der bisher unterbelichtet blieb, nämlich nachvollziehbarere Erklärungen für den weit verbreiteten Enthusiasmus, die positiven Gefühle vieler Deutscher für den Nationalsozialismus finden. Nicht zuletzt erhofft sich Raphael Gross daraus schlüssige Antworten auf die Fragen, warum nach 1945, da offiziell ein echter Bruch mit dem Nationalsozialismus stattgefunden hatte, Verbrecher dennoch oft nicht bestraft, "arisiertes" Vermögen aus eigener Initiative kaum restituiert und Jahrzehnte lang keine Verantwortung für die Entschädigung von Zwangsarbeitern übernommen wurde.

Verrat versus Werteverteidigung

Anhand einiger punktueller, größtenteils bekannter Kontroversen, untermauert der Historiker und Philosoph seine These: Wie konnte es sein, dass der SS-Offizier Kurt Gerstein, bekennender Christ, der seine Kenntnisse von den Vernichtungen an den schwedischen Gesandten und die holländische Widerstandsbewegung weitergab, als "belastet" eingestuft wurde und keine volle Rehabilitation erfuhr, während der SS-Richter Konrad Morgen, überzeugter Nationalsozialist und für den Korruptionskampf gegen NS-Parteieliten und in den Konzentrationslagern verantwortlich, als Entlasteter eingestuft wurde? Somit als jemand, der aktiv Widerstand geleistet hatte.

Gross sieht darin einen Beweis für das Weiterleben des besonderen NS-Moralsystems, das Morgens Eintreten für Recht und Sauberkeit, gegen die persönliche Raffgier hoher NS-Funktionäre, auch nach 1945 als Verteidigung der deutschen Gemeinschaftswerte belohnte, während Kurt Gerstein von den deutschen Richtern letztlich doch als Verräter, der Staatsgeheimnisse an Diplomaten ausländischer Mächte weitergegeben hatte, betrachtet wurde. Erst 1965 stufte Ministerpräsident Kurt Georg Giesinger Gerstein in die Gruppe der "Entlasteten" um.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der die Spruchkammer über Konrad Morgen und Kurt Gerstein befanden, sind solche Echos der NS-Moral besonders deutlich zu vernehmen. Das mehr oder weniger subtile Fortwirken von NS Mentalität und völkischer Gesinnung hat es wohl verhindert, dass man in Gerstein damals einen Helden des deutschen Widerstands erkannte.

Partikulares Moralsystem

Doch was ist das Charakteristische an der NS-Moral? Der Nationalsozialismus setzte, wie jeder moderne Nationalismus, auf eine Hierarchisierung ethnischer Unterschiede, bestimmte willkürliche Merkmale - wie eben die ethnische Differenz - als Kriterien von moralischer wie faktisch rechtlicher Zugehörigkeit und Ausschluss. Er vertrat ein partikulares, also ein eigenes Moralsystem, das in diesem Fall nur für die deutsche Volksgemeinschaft galt und nicht für die deutschen Juden.

Wer immer vor oder nach 1945 mit Begriffen wie Ehre, Anstand, Treue oder auch Schande argumentierte, zeigte, wie sehr er oder sie diesem Wertsystem verhaftet war. Von den Siegermächten wurde 1945 eine universalistische Moral verordnet, die auch vielen Deutschen nach der Geschichtskatastrophe als die bessere Alternative erschien. Universalistisch in dem Sinne, dass ihre Prinzipien für alle Menschen gelten, sich daraus gleiche Rechte und Pflichten für alle ableiten.

Aus der Perspektive eines solchen universalistischen Moralsystems wären andere Reaktionen zu erwarten gewesen: Verfolgung von Verbrechern, wo reale Schuld bestand, kollektive Empörung anstatt sich vage schuldig zu fühlen oder zu schämen, wenn man nichts getan hatte.

Viele übernahmen die Werte und Beurteilungen, die ihnen von den Besatzern, die eine universalistische Moral mitbrachten, nahegelegt wurden, ohne zugleich deren Art des moralischen Urteilens zu übernehmen. Sie verurteilten diejenigen Handlungen, die in dem alten System positiv bewertet worden waren. Aber sie als Verbrechen anzusehen hieß für sie nur, auf diese Handlungen die Form der Beurteilung anzuwenden, die sie mit der Internationalisierung des nationalsozialistischen Systems gelernt hatten. Dass sie sich für Handlungen schämten, die sie nicht begangen hatten, zeigt also auch, wie sehr sich die Form des moralischen Urteilens nach dem Krieg erhielt, obwohl seine Inhalte gewechselt hatten. Auschwitz war, so kann man sagen, in der Wahrnehmung dieser jungen Deutschen deshalb ein Verbrechen, weil es eine "Schande" war.

Ausschluss durch Kollektivierung

Noch 1998 sprach Martin Walser in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche von der immer währenden kollektiven "Schande" der Deutschen angesichts der verübten NS-Verbrechen. Doch damit stellte er abermals eine historische Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der von "Schande" Gezeichneten her und appellierte im Sinne einer partikularistischen Moral an eine nur sich selbst gegenüber verantwortliche deutsche Gemeinschaft.

Als Walser auch noch behauptete, dass das, was die Deutschen in Auschwitz begangen haben, sie als Nation begingen und allein deshalb müsse diese Nation weiter bestehen, so schloss er weiterhin die deutschen Juden aus dieser Gemeinschaft aus.

Vage philosophische Hülle?

Einerseits gelingt es Raphael Gross, Blitzlichter auf das mögliche Wesen der nationalsozialistischen Moral zu werfen. Sein Referenzautor ist der Philosoph Ernst Tugendhat, von dem er das Gerüst für seine Thesen übernimmt. Nicht dort liegt das Problem, sondern im Mangel einer Erklärung, was zum partikularistischen Moralsystem noch hinzu kommen musste, um zur Tat zu schreiten.

Er kann gerade Himmlers Rede, es gelte aus "Anstand" das jüdische Volk, von dem eine ausgehende Gefahr konstruiert wurde, umzubringen, nicht erklären. Denn partikularistische Moralsysteme existieren allerorts in eingeschworenen Kampfgemeinschaften - im Übrigen auch in der zionistischen - und schon Hegels Kritik an den zu abstrakten universalistischen Werten der Französischen Revolution zeigte, dass auch im Universalismus ein Anteil Partikularität steckt, indem das Besondere daraus völlig verbannt und auf diese Art zum Besonderen wurde.

So sehr Gross Ansatz eine Bereicherung der oft eingefahrenen Sichtweisen darstellt, bleibt sein Anspruch, die nationalsozialistische Moral damit zu erklären, unerfüllt. Es stellt sich eher der Eindruck ein, als hätte er eine vage philosophische Hülle für seine diversen Aufsätze gesucht.

Service

Raphael Gross, "Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral", S. Fischer Verlag

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