Das neue Buch von Peter Waterhouse

Der Honigverkäufer im Palastgarten

Wer spricht? Was wird erzählt? Das sind die normalen Fragen von Peter Waterhouse. Die Erzählung "Der Honigverkäufer im Palastgarten und das Auditorium Maximum" scheint diesbezüglich aus der Reihe zu fallen. Es beginnt "konventionell", wie in einer Novelle.

Im Winter 2009 erhielt ich die Einladung von A. S., nach Tirol in das Mondlanger Waldtal zu kommen, um über den langen Weg und das Land, in welchem der Weg lag, der von dem Tal zur Mautstraße ging, zu schreiben.

Am Ende der ersten Seite ist allerdings auch schon klar, dass das "unerhörte Ereignis", um das sich eine Novelle entfaltet, so leicht nicht festzustellen sein wird. Zum Thema wird sogleich, was das Verfahren der vier ineinander verschränkten Einzelerzählungen des Buches ausmacht: Wiederholung, langsames Voranschreiten durch Wiederholung:

Ich las in jenem Winter langsam - manches Kapitel fünfmal, sechsmal, siebenmal, zehnmal - den Roman von Charles Dickens über den Besitzer des Londoner Handelshauses Dombey and Son, 1846 bis 1848 erschienen in monatlichen Folgen.

Wendungen ins Bodenlose

Der Erzähler liest den Roman, weil er sich als Kind vor Charles Dickens und dessen Romanen gefürchtet hatte - vor der Rohheit seiner Figuren, und vor allem, weil das Kind einzelne Worte nicht verstand. Zum Beispiel, heißt es da, das Wort "bedside" verlangte nach etwas:

... dass es nicht so sachlich war wie das Wort bed, dass es Gesellschaft, Gemeinschaft, Geselligkeit ausdrückte und Sorge um jemanden, der ans Bett gefesselt war, nicht aufstehen konnte, krank war und sterbenskrank.

Die langsame, retartierende Erzählweise erlaubt überraschende Wendungen: Wendungen ins Bodenlose, in Verwirrung, Katastrophe oder sei es auch nur in Irritation. Worin aber besteht Verstehen in der Welt, wenn nicht in der Korrektur derartiger Irritationen?

Peter Waterhouse macht die Momente des Nichtverstehens, des Anders- und Neuverstehens zum Antriebsmotor seines abschweifenden Erzählens: Immer wieder taucht da ein Brief auf, der eine Zeitlang ungeöffnet bleibt, ein Einladungsschreiben, etwas Vages breitet sich aus, überlagert von einer eigentümlich besonnenen Stimmung: Wer spricht? Was wird erzählt? Auf Seite 192 wird es heißen:

Ein großer Teil unser Schwierigkeiten mit der Religion und anderen Dingen entsteht daher: dass wir das Wort unbestimmbar verwechseln.

Umso überraschender ist dann die geradezu "einfache" Auflösung, was es mit dem mysteriösen Titel der Erzählung auf sich hat: Im Palastmuseum von Peking gibt es ein Bild eine Honigverkäufers: Der größte Teil des Bildes, heißt es, war "wie ohne Bild und war mit Honig oder mit honigfarbener Farbe gemalt. So dass ich in dem Bild zugleich nichts sah und Honig."

Sprachliche Verbindungen

Unbestimmt, oder nicht unmittelbar ersichtlich wird, wie die einzelnen Teile der Erzählung sich miteinander verbinden, warum einzelne Motive immer wieder auftauchen, andere - kaum angesprochen, sogleich wieder verschwinden.

Da plant jemand, vermutlich der Erzähler, eine Bibliothek von unübersetzbaren Büchern herauszugeben. "Untranslateable Africa" soll die Buchreihe heißen - ein insofern paradoxes Unterfangen, als der Erzähler selbst offenbar auch Übersetzer ist, jedenfalls etwas mit der Übersetzung von Shakespeares Sonetten zu tun hat.

"Sonett" verbindet sich sogleich - als gäbe es geheime chemische Formel für derartige Verbindungen - mit Sonne, und weiter mit Sohn. Die Frage des Übersetzens führt zur Beschreibung einer eigentümlichen Gerichtsverhandlung unter freiem Himmel in Ruandas Hauptstadt Kigali: Der Erzähler, der vielleicht zu einem Kamerateam gehört, hält einen Wortwechsel fest:

Was wollen diese Weißen von uns? Wünschen sie sich, dass wir einander vergeben? Dass wir den Tätern und den Mördern vergeben?

Offenkundig wird hier der Völkermord verhandelt - bei Waterhouse ist es dann nicht mehr weit zu Hamlet und zur ewigen Frage des Sohnes: ermorden oder nicht ermorden?

Und sogleich kommt auch noch die Gestalt eines Großvaters ins Spiel, der in deren Anfangszeiten mit der Deutsch-Ostafrikanischen Kolonie (Ruanda) etwas zu tun hatte.

Verkehrter Alltag

Was sich mitunter wie die Assoziationen eines Drogenrausches liest, führt sogleich wieder in einen bekannten Alltag zurück, doch hat sich in diesem Alltag jetzt alles verkehrt: Ein Fahrrad oder das weiße Mobiltelefon der Tochter des Erzählers werden "ungewöhnlich":

Der Tod hingegen war das Vertraute und Gewöhnliche.

Aber auch hier lässt sich wiederum alles in Frage stellen:

Waren wir zu reich für den Tod? Waren wir zu reich für die Armut?

Und:

Gab es die Geschichte?

Die letzte Frage ist insofern rhetorisch als gerade die Geschichte der Besetzung des Auditorium Maximum der Universität Wien im Herbst 2009 einen breiten Raum der Erzählung einnimmt. Zumindest einzelne Momente dieser studentischen Besetzung, bei der das "Audimax" zu einem "Nachdenkraum" wurde: Was dort an Bemerkenswertem geschah?

Die Beschlusslosigkeit und die Beschlussunfähigkeit wurden am Leben erhalten, und der Mangel an Nachricht und die Entwicklung ohne Resultat.

Kontinent Stadtrand

Einer der bevorzugten Orte des Erzählers Peter Waterhouse ist der Stadtrand, konkret die Gegenden um die Triester Straße und Hirschstetten, Vororte im Süden und Norden von Wien. "War der Stadtrand ein neuer Kontinent?", heißt es einmal - und damit sind nicht die Fragen der Stadtplaner alleine gemeint.

Der Erzähler hört dort den Unterhaltungen und Disputen der Besucher eines Tankstellen-Cafes zu (und sinniert darüber, was er hört oder nicht hört); unverhofft taucht Shakespeares Hamlet wieder auf - diesmal in Gestalt von Goethes "Wilhelm Meister", der schon seinerzeit an das Shakespeare-Stück die noch immer virulente Frage stellte: Was sind Ereignisse, was ist der Hintergrund? Was Alltag, was Zitat? Was Harmonie, was ist Banalität?

Radikale Fragen

Die Gedankenflucht dieses nie einsamen und trotz seiner eigentümlichen Überlegungen nicht im Geringsten eigenbrötlerisch wirkenden Erzählers, der mit einem Malerfreund in nicht näher erklärten Verhältnissen steht, mündet in einer geradezu pompösen Schlussfrage, in einem monumentalen Schlussbild:

Waren zum ersten Mal in Europa Kinder unkriegerisch aufgewachsen? Unkriegerische Zwanzigjährige in der Volksschule auf der Triester Straße und die ersten wirklich friedlichen Einwohner im Auditorium Maximum an der Befestigungsringstraße?

Die Vision am Ende von "Der Honigverkäufer im Palastgarten und das Auditorium Maximum" ist jene eines flug- und flugzeugfreien Himmels, darunter befindet sich das Zentrum einer Stadt im Herzen Europas, in der plötzlich alle Bahnhöfe abgerissen werden (was in Wien zurzeit ja tatsächlich der Fall ist): Was ist geschehen? Wie groß ist die Erschütterung, wie groß die Erschütterung des ganzen Kontinents?

Peter Waterhouse stellt radikale Fragen: Im Unterschied zu seinen früheren Büchern bleibt hier sehr viel mehr Unfassbares: Aber vielleicht hat das ein Text, der unverhohlen Zukunft und Utopie beschwört, notwendigerweise an sich? Jedenfalls ist im "Honigverkäufer" das Gegenteil dessen der Fall, was Immanuel Kant in seiner kleinen Schrift "Vom ewigen Frieden" ironisch angedeutet hat: Es wird keine Friedhofsruhe angesprochen, kein Kirchhofsfrieden. Was ist dann also der Frieden, der Frieden jenseits des Todes - und zwar noch vor dem Himmel? Peter Waterhouse traut sich zumindest, derartige Frage zu stellen!

Service

Peter Waterhouse, "Der Honigverkäufer im Palastgarten und das Auditorium Maximum", Jung und Jung

Jung und Jung - Der Honigverkäufer im Palastgarten