Das "schlafende Land" und seine Schriftsteller

Sehnsuchtsort Sibirien?

Für manche ist Sibirien eine Art sterbendes Paradies, das es zu schützen gilt. Andere ergreifen, sobald es ihnen möglich ist, die Flucht. Und dann gibt es einen, der schon lange am westlichen Rand Russlands lebt und sich dennoch nach Sibirien sehnt.

Das Wort "Sibirien" schillert. Eine der "Farben" Sibiriens ist Tiefschwarz und signalisiert Angst, Panik, Terror, Straflager, Zwangsarbeit. Schon in der Zarenzeit wurden Unliebsame, Politische und Verbrecher nach Sibirien verbannt. Diese "Tradition" wurde unter der Sowjetzeit ausgebaut und perfektioniert. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Historiker Rudolph Joseph Rummel schätzt die Zahl der in den Lagern Umgekommenen auf 39 Millionen.

Eine andere sibirische Farbe ist Weiß, die Farbe von Schnee und Eis. Im äußersten Osten Sibiriens liegt die Halbinsel Tschukotka, die Heimat der Tschuktschen. Einer von ihnen ist Juri Rytcheu, der in die alte, nomadische Lebensweise in der Tundra und an der Küste des Polarmeeres bzw. der Beringsee hineingeboren wurde. Das Leben der Tschuktschen, die Veränderungen, die sie erst hinnehmen mussten und später vielleicht haben wollten, die Begegnungen mit Menschen aus anderen Kulturkreisen, aber auch die alten Mythen und Märchen waren für Juri Rytcheu Thema und Inspiration seiner schriftstellerischen Arbeit.

Wo die Schamanen zu Hause waren

Auch das Dunkle Grün schillert aus dem Wort Sibirien: Die unendlichen Wälder, an deren unzugänglichsten Orten die Schamanen lebten, die die Verbindung zwischen den einfachen Menschen und der Welt des Göttlichen herstellen konnten, die heilten und halfen. Stalin lud sie alle zu einem großen Kongress. Dort ließ er sie inhaftieren und ermorden - sie passten nicht in die neue Rationalität der Sowjetunion. Wenige entkamen.

Einem von ihnen begegnete die sibirische Ärztin und Psychotherapeutin Olga Kharitidi. Die spirituelle Erfahrung, die sie mit Hilfe der weisen Alten machen durfte, hat sie in zwei Büchern niedergeschrieben.

Ein "französischer" Schriftsteller

Welche Farbe symbolisiert "Raus hier", Flucht? Das sollten die Schriftsteller, die aus ihrer Heimat Sibirien weggezogen sind, selbst beantworten. Es sind nicht wenige, und man könnte sie ohne weiteres als "schillernde Persönlichkeiten" bezeichnen. Andrei Makine zum Beispiel. Wie er französisch lernte, ist nicht ganz klar. Es heißt, seine französische Großmutter hätte es ihm beigebracht, aber in einem Interview erzählte er selbst, er hätte es von einem Freund gelernt. Tatsache ist, dass Makine schon als Bub Gedichte in russischer und französischer Sprache verfasste. Als er 1987 als 30-Jähriger die Möglichkeit erhielt, im Rahmen eines Lehreraustauschprogrammes Frankreich zu besuchen, packte er die Gelegenheit beim Schopf und bat um politisches Asyl. Mittlerweile gilt er als "französischer Schriftsteller".

Und dann gibt es noch die "Schrillen": Larissa Wanejewa, Jewgeni Popow, Jewgeni Grischkowez. Alle drei kamen zunächst nach Moskau. Alle drei wirbelten Staub auf. Nur einer von ihnen blieb in Moskau: Jewgeni Popow. Er trotzte gemeinsam mit seinen Kollegen Wassili Axjonow, Andrej Bitow, Viktor Jerofejew und Fasil Iskander den Offiziellen und gab den unabhängigen Almanach "Metropol" heraus – worauf man ihn aus dem Schriftstellerverband knapp nachdem man ihn aufgenommen hatte, wieder ausschloss. Seine Geschichten wären voll von Trinkereien und Obszönitäten und hätten mit Literatur nichts zu tun, so die Verantwortlichen. Larissa Wanejewa, deren kaputte Typen in ihren Geschichten an der noch kaputteren Wirklichkeit zugrunde gehen, lebt heute in Tallinn.

Out of Moskau

Jewgeni Grischkowez begann als Schauspieler. Er gilt als Erfinder der "russischen Performance" und schaffte 1998 den Sprung in eine große, internationale Öffentlichkeit mit seinem heute berühmtesten Stück "Wie ich einen Hund gegessen habe". 2004 schrieb er seinen ersten Roman "Das Hemd", ein Tag im Leben eines Mannes in Moskau. Eine Hommage oder ein Drohung? Wenn man weiß, dass er auf keinen Fall in Moskau bleiben wollte und heute in Kalinigrad lebt...

Sein jüngstes, auf Deutsch erschienenes Buch "Flüsse" erzählt in den wunderbarsten Farben von seiner alten Heimat Sibirien. Und dieses Buch lässt das allein Tiefschwarze, Blutrote, Schneeweiße und Dunkelgrüne vergessen und macht neugierig. Neugierig auf das wirkliche Sibirien, in dem ganz normale Menschen leben. Menschen wie du und ich.

Service

Jury Rytcheu, "Teryky. Eine Tschuktschen-Legende", Aufbau Verlag

Jury Rytcheu, "Wenn die Wale fortziehen", Unionsverlag

Olga Kharitidi, "Das weite Land der Seele, List

Andrei Makine, "Russisches Requiem", Hoffmann & Campe

Andrei Makine, "Das Verbrechen der Olga Arbelina", btb

Larissa Wanejewa, "Das Gespenst eines Tallinners oder Der Untergang von Odessa", btb

Jewgeni Popow, "Die wahre Geschichte der grünen Musikanten". Berlin Verlag

Jewgeni Grischkowez, "Das Hemd", Ammann Verlag

Jewgeni Grischkowez, "Flüsse", Ammann Verlag

"Es war ein Land der Tränen. Ein Sibirien Lesebuch", Aufbau Verlag