Schelmenroman von Ian McEwan

Solar

Michael Beard ist Physiker und Frauenheld. Er hat den Nobelpreis erhalten, doch ist er alles andere als nobel: Im Beruf ruht er sich auf seinen Lorbeeren aus, privat hält es ihn auf Dauer bei keiner Frau. Bis die geniale Idee eines Rivalen für Zündstoff in seinem Leben sorgt.

"Stellen Sie sich vor", sagt der Assistent zum Professor. "Stellen Sie sich vor: Da ist ein Mann im Wald, es regnet, und er ist am Verdursten. Mit seiner Axt beginnt er, Bäume zu fällen, um den austretenden Saft zu trinken (...) Um ihn herum ist alles wüst und leer, und er weiß, er ist schuld daran, dass der Wald so schnell verschwindet. Warum macht er nicht einfach den Mund auf und trinkt den Regen? Weil er so gut im Bäume-fällen ist, weil er es schon immer so gemacht hat, weil er die Leute, die Regentrinken befürworten, für verrückt hält."

Das Beispiel, eine Parabel über die Sturheit und Lächerlichkeit, mit der man, wie der Assistent meint, das Potenzial der Solarenergie wie in diesem Fall den Regen ignoriert, kann Professor Beard wenig beeindrucken. Obwohl Nobelpreisträger für Physik und Direktor eines Forschungsinstituts für Erneuerbare Energien, ist ihm der Klimawandel kein wirkliches Anliegen. Endzeitdenken und Katastrophengerede gehen Beard auf den Geist, und die Apologeten der Sonnenenergie erinnern ihn an "New-Age-Druiden in langen Gewändern, die in der Mittsommerdämmerung um Stonehenge herumtanzten."

Fähnchen nach dem Wind

Fünf Jahre später, der Assistent und Solarexperte ist inzwischen tragisch verstorben, nach einer Liebesnacht mit Beards Frau über ein Eisbärenfell im Haus des Professors gestürzt, und Beard selbst vom Institut entlassen, hält der noch immer gefragte Physiker einen Vortrag über Sonnenenergie vor Pensionsfondsmanagern.

"Stellen Sie sich vor, wir begegnen am Waldrand einem Mann", sagt Beard zu den Managern. "Es regnet in Strömen. Der Mann ist kurz vorm Verdursten. Er hat eine Axt und fällt damit Bäume, um den Saft aus den Stämmen zu saugen... Um ihn herum ist alles verwüstet, (...) er weiß, der Wald wird bald verschwunden sein. Warum legt er nicht einfach den Kopf in den Nacken und trinkt den Regen? Weil er so gut Bäume fällen kann, weil er das schon immer so gemacht hat..." Starker Applaus empfängt den Redner. Michael Beard - ein Opportunist, Plagiator und abgewrackter Wissenschaftler, der Einstellungen und Gesinnungen ablegt und anzieht wie Kleider.

Michael Beard ist der Held von Ian McEwans neuem Roman "Solar": ein Antiheld, ein Mann ohne Prinzipien, Ideale und wissenschaftliches Ethos, bieder und bauernschlau zugleich, getrieben nur von seiner Fresssucht und Geldgier. Nur so, meint Ian McEwan, habe er das von viel Pathos, leeren Bekenntnissen und Sonntagsreden umwölkte Thema Klimakatastrophe zum Thema eines Romans machen können: mit einer Buffo-Figur im Zentrum.

"Ich hatte schon seit längerem vor, mich mit dem Klimawandel zu beschäftigen, aber ich fand das Thema zu sperrig für einen Roman", sagt Ian McEwan: nur Fakten, Statistiken und die Verführung zum Predigerton. Erst als er vor drei Jahren zu einer Klima-Konferenz nach Potsdam eingeladen wurde, fand er die Lösung.

Von früheren Meriten zehren

McEwan sah sich in Potsdam inmitten einer Schar von "großen Tieren" - er, der einzige Nicht-Wissenschaftler, umgeben von Nobelpreisträgern, die alle ihre besten Tage längst hinter sich hatten. Das war die Geburtsstunde des Michael Beard - die Begegnung mit Berühmtheiten, die in ihrem eigenen Schatten lebten.

McEwans Roman "Solar", diese Komödie über die menschliche Natur, beginnt im Jahr 2000, wenn Michael Beard, Professor für theoretische Physik und Erfinder des Beard-Einstein-Theorems, 53 Jahre alt ist, noch immer von seinen frühen Meriten zu zehren versteht und gerade seine fünfte Ehe in die Brüche gehen sieht, und endet neun Jahre später, mit dem beruflichen und privaten Totalbankrott des beleibten Nobelpreisträgers, der sich in Amerika als Unternehmer versuchte, mit seiner Entzauberung als Betrüger und Heiratsschwindler, der eine letzte E-Mail erhält: eine Einladung zum Klimagipfel nach Kopenhagen.

Ein Unsympathler unter Unsympathlern

In diesen neun Jahren ist Michael Beard dicker, aber nicht bescheidener geworden, älter, aber nicht skrupulöser. Menschen, die das Große und Ganze umtreibt, das Ende der Erde und die Rettung des Planeten, kann er nicht ausstehen. Beards Denken kreist immer nur um Beard, um Gin und Chips, um Frauen und Geld.

Er hat keine Hemmungen, sich mit fremden Federn zu schmücken, die Arbeiten eines Jungforschers zur Photovoltaik und künstlichen Fotosynthese als eigene Leistungen auszugeben und zu vermarkten und einem Unschuldigen einen Mord in die Schuhe zu schieben. Beard ist ein Intrigant, kein Idealist, ein Schlitzohr, kein Gutmensch.

Dass sich der Leser dennoch mit ihm identifiziert, liegt auch daran, dass die, die ihn umgeben, viel unsympathischer sind als er: pferdeschwanztragende Assistenten mit Hang zu Pathos und Unterwürfigkeit, fremdgehende Ehefrauen mit Sinn für Melodramatik, hysterische Feministinnen im Wissenschaftsbetrieb, eine sensationslüstern denunzierende Journalistenmeute. Es liegt aber auch daran, dass er etwas verkörpert, was nur allzu menschlich ist - Trägheit, Egoismus, Lüsternheit und Stolz. Er ist die Koloss gewordene Maxime des "Jeder ist sich selbst der Nächste". Was für Ian McEwan nicht bedeutet, dass solche Beards nicht auch ihr Gutes haben. Für eine Revolution - und einer solchen bedarf es nach Meinung des Autors, will man dem Dilemma von Energieknappheit und Klimaerwärmung entkommen - braucht man keine Philanthropen.

Mit Verve und Witz

"Solar" ist ein Schelmenroman. Sein Held ist klein, dick, faul, ängstlich, eitel, gierig, maßlos und durchtrieben - ein Karrierist und dabei doch ein Loser. Und Ian McEwan porträtiert ihn voller Verve und Witz - lässt ihn in Abenteuer und Amouren stolpern, zeigt Slapstick- und Karikaturhaftes. Da liegt schon mal - in "Dinner for one"-Manier - ein Bärenfell im Weg, gefriert ein männliches Glied im arktischen Eis am Reißverschluss der Hose fest oder werden dem Vortragsredner im Übermaß genossene Lachsbrötchen zur Qual.

"Solar" ist glänzend geschrieben und amüsant, ein wirklich berührendes, zum Nach- oder Umdenken anregendes Buch ist dieser Roman mit seiner unverhohlenen Aversion gegen allzu wohlmeinenden Idealismus und abgedroschene Katastrophenrhetorik eher nicht. "Solar" ist beste Unterhaltung. Nicht mehr, und nicht weniger.

Diogenes

Ian McEwan, "Solar", aus dem Englischen übersetzt von Werner Schmitz, Diogenes Verlag

Diogenes - Ian McEwan