Frühe Gedichte von Rolf Dieter Brinkmann

Vorstellung meiner Hände

Mit frühen Texten eines Autors ist es meist so eine Sache: Der Verlag publiziert sie mit einem gewissen Widerwillen und der Verpflichtung zur Komplettierung des Oeuvres. Und nur den happy few, den Kennern gilt das Frühwerk als Beweis für die stete Genialität ihres verehrten Autors. Bei Brinkmann ist das glücklicherweise anders.

Wer war dieser Rolf Dieter Brinkmann? Wenn es einen Autor gegeben hat, der tatsächlich kongenial amerikanische Popliteratur mit ganz eigenen Worten ins Deutsche transferiert hat, dann war es Brinkmann. Die von ihm mitherausgegebene Anthologie "Acid. Neue amerikanische Szene" gehört heute noch zu den wesentlichen Dokumenten der Beat Generation. Und dann haben seine großen Collage-Romane wie "Rom, Blicke" und "Rom. Worlds End" den Autor berühmt gemacht.

Dazu gehört auch der Lyrikband "Westwärts 1&2" mit seinen kompromisslosen Langgedichten, publiziert 1975, also im Todesjahr des Dichters. Interessant ist, dass Brinkmann schon früh auf offene Ohren mit seiner Prosa stieß, bei seiner Lyrik aber länger auf Anerkennung warten musste.

Poesie neunzehnhundertsechzig

Anfang der 1960er Jahre schrieb der zwanzigjährige Brinkmann seine ersten Gedichte nieder. "Poesie neunzehnhundertsechzig" heißt ganz zeitgetreu einer seiner lyrischen Texte.- Aber was ist Poesie um 1960?

Es ist ein blinder König ohne Reich
ist eine vergessene Sprache zwischen Vogel und Fisch
ist ein alter Kinderschuh und ausgetreten

Dornröschen wird nicht mehr erwachen
auf Photos um neunzehnhundertsechzig

ist die andere Seite des Mondes
ist die Stille, die schwarz wird.


Man merkt, wie der junge Brinkmann bestimmte Traditionsstränge der deutschen Lyrik nicht einfach fahren lassen will: Die kritische Natur-Poesie eines Peter Huchel oder Günter Eich; die expressionistischen Großstadtgedichte des von Brinkmann verehrten Gottfried Benn. Doch dann ist die Poesie um 1960 auch ein alter, ausgetretener "Kinderschuh".

Einfluss des Jazz

Nach der Nazi-Diktatur, dem Weltkriegsdesaster und inmitten der Wirtschaftswunderzeit findet man die Schönheit der Poesie nur noch in den verbrauchten Gegenständen auf der Müllhalde. Hier muss die neue Dichtungssprache sich umschauen. Und sie erhält zusätzlich einen neuen "Drive". Es ist der Jazz, der die Gedichte leichter macht, rhythmisch intensiviert und der zugleich Vorbote ist für die amerikanische Beatnik-Literatur.

ein wenig schwarzer Jazz nur
schwarz und
der Blues
die Trommel
predigt
den Staub
der Augenblick ist
so
voller
Gesang.

Den eigenen Weg gegangen

Dass die frühen Gedichte des Rolf Dieter Brinkmann nicht verlorengegangen sind, gleicht einem Wunder. Sie befanden sich als Konvolut über zwei Jahrzehnte im Besitz von Peter Hackmann, einem Mitschüler und zeitweiligen Wohnungsgenossen Brinkmanns. Die Papiere, handschriftliche Entwürfe und Maschinen-Abschriften, waren vollkommen unsortiert und in der Mitte durchgerissen.

Hackmann übertrug nun als Studienrat dem von ihm geleiteten Literaturkurs am Gymnasium die Aufgabe, die Papiere zu ordnen - eine Horrorvision für jeden Literaturwissenschaftler und Archivar! Doch glücklicherweise ist bei der Bestandsaufnahme durch interessierte Laien nicht viel passiert. So hält man die frühen Gedichte Brinkmanns jetzt in Händen und ist erstaunt: Da greift ein zwanzigjähriger Autor die deutschsprachige Lyrik-Tradition seit der Romantik auf, hinterfragt sie kritisch und beginnt, seinen eigenen lyrischen Weg zu gehen.

Und es traten
andere Stimmen aus
den Dingen als
Rilke es sagte!


Der junge Rolf Dieter Brinkmann wollte Rilke und sein Poesieverständnis nicht leugnen, aber er wollte lyrisch anders sprechen! Brinkmanns frühe Gedichte stehen für sich und sie sollten als eigenständiger Teil seines gesamten Oeuvres gelesen werden. Sie zeigen zudem, dass Brinkmann auf die deutschsprachige Lyrik vergangener Zeiten Bezug genommen hat und nicht bloß ein Apologet amerikanischer Beatnik-Literatur gewesen ist. Mit dieser Erkenntnis wird man dann auch Rolf Dieter Brinkmanns spätere Texte mit anderen Augen lesen.

Service

Rolf Dieter Brinkmann, "Vorstellung meiner Hände. Frühe Gedichte", Rowohlt 2010