Ausgangspunkt Webern
Das RSO bei Wien Modern
Anton Webern, Morton Feldman, Roman Haubenstock-Ramati bilden einen der Schwerpunkte der Konzerte des RSO Wien bei Wien Modern. Ö1 überträgt die Auftritte des Orchesters beim Festival für Neue Musik live.
8. April 2017, 21:58
Eigentlich beginnt alles mit Richard Wagners Tod in Venedig - 1883. Dies ist zugleich das Geburtsjahr zweier Künstler, die der Musik des 20. Jahrhunderts einen ganz anderen Ton vorgaben: Anton Webern und Edgar Varèse. Wie zwei Antipoden markieren sie die Extrempole der Neuen Musik zwischen der Emanzipation der Stille und der umfassenden Entgrenzung des Geräuschs. Es ging, mit Alexander Kluge zu sprechen, um den unmittelbaren "Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit". Von heute aus betrachtet wird die erste Dekade des 20. Jahrhunderts lesbar im Zeichen des Labyrinths.
Im Zeichen des Expressionismus folgte die musikalische Logik des Fortschritts plötzlich einem unwillkürlich-dissoziativen Triebleben der Klänge. Schönbergs Notiz aus dem Berliner Tagebuch anlässlich seiner Fünf Orchesterstücke op. 16 mit dem berühmten Farbenstück plaudert es aus: "Die Idee ist tiefer. Das Unaussprechliche sagt man in der freien Form". Anton Weberns Sechs Orchesterstücke op. 6 vertiefen nun diese Idee, indem sie tatsächlich einen Musikstil der Freiheit inaugurieren. Diese kurzen und kleinen "Piecen" "gingen miteinander in einer höheren Einheit auf, in einer Art durchsichtigem Labyrinth, für das man heute gern den Ausdruck 'strukturelle Komposition' verwendet" - so kommentiert György Ligeti später diesen einfach komplizierten Sachverhalt.
Kunst der Übergänge
Das künstlerische Medium des musikalischen Expressionismus war die freie Atonalität. Schönbergs kompositorische Entwicklung bewegte sich schließlich weiter hin zum System der Zwölftontechnik. Weberns konstruktiver Elan entfaltete sich durchaus eigenständig. Roman Haubenstock-Ramati war schon als Kompositionsstudent in Polen fasziniert von der absoluten Lyrik der Webern'schen Miniaturen. Der im polnischen Krakau 1919 geborene Jude muss als junger Mann während der von Brecht so genannten "finsteren Zeiten" Unsägliches durchlitten und überstanden haben: "öfter die Länder als die Schuhe wechselnd".
Haubenstock selber hat darüber kaum je ausführlich gesprochen, aber mir ist eine Geschichte in Erinnerung, wonach sein Überleben in diversen Strafkolonien nur möglich war, indem er kleine musikalische Skizzen in Glasscherben einritzte. So ist hier die Dignität der großen Werke in die Fragment-Form der kleinsten Splitter übergegangen - nach Schönberg: "Bruchstück wie alles".
Dreißigjähriger Krieg
Vielleicht muss man, angesichts solcher Hintergründe, die Geschichte des ganzen 20. Jahrhunderts noch einmal radikal umschreiben, wie Alexander Kluge es im August 2010 angedeutet hat: "Der 1. August 1914 ist dieser verhängnisvolle Tag, dessen Kollateralschäden im Grunde genommen 31 Jahre dauerten. Es war ja eigentlich ein dreißigjähriger Krieg, der nur kurz unterbrochen wurde durch eine Art Waffenstillstand bis 1939." (Und man wird wohl auch die traurigen Umstände von Weberns allzu frühem Tod in Mittersill zu den Kollateralschäden zählen müssen.) - Roman Haubenstock-Ramati jedenfalls beschloss Ende der 1950er Jahre, nach vielen Wegen und Umwegen quer durch das junge Nachkriegseuropa und das ebenso junge Israel, seinen festen Wohnsitz in Wien zu nehmen. Wenn man so will wurde die Stadt und das Verlagshaus für die Neue Musik, die Wiener Universal Edition, für Haubenstock zum Gehäuse des Hieronymus. Also auch hierin konkrete Erbschaft Anton Weberns.
Haubenstock-Ramatis feinsinnig-raffinierte Arbeit an den einzelnen Werken ist - durch diese hindurch - eigentlich immer: Arbeit an der ganzen Musik.
Gestus des Lauschens
Haubenstock-Ramati zu seinen orchestralen Nocturnes: "Eine andere Musik, der man (vielleicht) ganz allein (einsam) vom Radio oder Tonband, in der Nachtstille, lauschen sollte. - Musik vieler kurzer, zarter, sich stets verschiebender Melodien und flüsternder Geräusche; den hellen und den etwas dunkleren, sich immer wandelnden Wolken ähnlich. Eine beruhigende Unruhe oder beunruhigende Ruhe. - Ein imaginäres Wechselbild, das vieles ahnen lässt, ohne das Eindeutige, das Endgültige suggerieren zu wollen. Eine immer neue Geschichte wird mit immer denselben Worten erzählt. Von einem Orchester gespielt, das leise, wie von der Ferne klingt; das kein Forte und kein Tutti kennt."
Eine andere Musik also, die vieles ahnen lässt. Doch damit ist noch nicht alles gesagt. Denn diese Nocturnes mit ihrem Faible für das "lontano" sind eigentlich gar keine Nocturne-Kompositionen. Man glaubt, im Gestus des Lauschens immer neue und andere akustische Wolkenbilder zu erkennen, während diese zugleich längst schon wieder begonnen haben, sich aufzulösen. "Imagination verleiht Träumen die Form", heißt einer der Leitsätze von Varèse, dem Burgunder in Amerika.
Abstrakte Expression
Eine Begegnung an einer New Yorker Straßenecke in den 1960er Jahren: An einer roten Ampel traf der junge Morton Feldman zufällig auf Edgar Varèse, der sich nach seinem aktuellen kompositorischen Schaffen erkundigte. Auf die Auskunft hin, er arbeite gerade an einem umfänglichen Orchesterstück, meinte der Ältere sinngemäß nur: "Achte auf den Klang: und wie lange es dauert, bis er ankommt."
Dieser Hinweis markierte für Feldman eine Wendung wie im "Dunkel des gelebten Augenblicks" (Ernst Bloch), er nannte dieses Zufallstreffen später seine einzige, geradezu lebensentscheidende musikalische Lektion. Jahrzehnte später schrieb Morton Feldman "Coptic Light". Das Rätselhafte an der späten Musik Morton Feldmans entspringt dem Charakter seiner schier unerklärlich sich entfaltenden akustischen Erscheinungsformen - Between Categories. Genau so wie Haubenstocks "Nocturnes" eigentlich keine Notturnos bilden, wird in "Coptic Light" nicht unbedingt Licht komponiert.
Zwischen Malerei und Musik
Mit glitzernden Gesten aus der Fremde einer Schattenwelt, nur kurzweilig dem Zwielicht entronnen, werden in diesem riesig aufragenden Mobile für Orchester die dunklen Schwebungen der Stille ausbalanciert. Morton Feldman: "Mein Interesse an der Oberfläche ist das Thema meiner Musik. In diesem Sinne sind meine Kompositionen gar keine 'Kompositionen'. Man könnte sie mit einer Zeitleinwand vergleichen. Ich bemale diese Leinwand mit Musikfarbe. Ich ziehe es vor, an meine Arbeit so zu denken: Zwischen den Kategorien. Zwischen Raum und Zeit. Zwischen Malerei und Musik. Zwischen Konstruktion der Musik und ihrer Oberfläche."
Das hat naturgemäß mit akustischen Einschwingungsvorgängen ebenso wie mit spezifisch gefärbten Momenten des Ausklangs zu tun, die sich überdies immer wieder in fortschreitenden Koinzidenzen überlagern und überschneiden - wie im Chiaroscuro einer groß dimensionierten Nature morte: auf imaginäre Klangzeitleinwände projiziert. Im Grunde ist Coptic Light ein akustisches Stillleben der größtmöglichen Abstraktion, deren Aura sich immer neu bildet, indem sie gleichsam unmerklich simultan entschwindet.