Unruhige Lage in Tschetschenien

Mordkommandos und Islamismus

Der Prozess um den Mord an Umar Israilov in Wien lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Krisenherd, der in den letzten Jahren aus dem Scheinwerferlicht verschwunden ist: den Krieg in Tschetschenien und dem russischen Nordkaukasus. In den letzten Monaten hat die Zahl der Anschläge und Überfälle dort wieder dramatisch zugenommen.

Mittagsjournal, 16.11.2010

Kämpfe am Kaukasus

Letzten Donnerstag sind 11 Menschen bei Kämpfen im Kaukasus getötet worden, am Samstag drei, am Montag zwei. Laut der offiziellen russischen Statistik gab es bis Ende September 352 Überfälle, also mehr als einen pro Tag, bei denen 200 Polizisten und Soldaten getötet wurden, außerdem mehrere hundert Aufständische.

Betroffen sind vor allem die Republiken Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien, wohin die Rebellen in den letzten Jahren ausgewichen sind. Doch auch in Tschetschenien selbst hat es erst im Oktober einen Überfall auf das Parlament in der Hauptstadt Grozny gegeben. Von Ruhe und Frieden also keine Spur.

Geheimer Krieg kein Asylgrund

Doch von Krieg will niemand reden. Im Gegenteil: erst vor einem Jahr wurde die so genannte Anti-Terroristische Kampagne im Kaukasus offiziell für beendet erklärt. Für viele europäische Regierungen, auch in Österreich, der Anlass, Flüchtlinge und Asylwerber aus Tschetschenien wieder in ihre Heimat zurückzuschicken. Das sei ein großer Fehler sagt der Journalist Wjatscheslaw Ismailov, Freund und Kollege der Ermordeten Anna Politkowskaja und Natalja Estemirowa.

Die Mehrheit dieser Leute will nicht zurück. Und es gibt für niemanden eine Garantie, nach der Rückkehr nicht einfach zu verschwinden. Es darf daher kein Druck auf sie ausgeübt werden, zurückzukehren.

Tschetschenen gegen Tschetschenen

Nach den beiden Kriegen in den 1990ern mit zehntausenden Toten änderte die russische Regierung ihre Strategie. Der Konflikt wurde sozusagen tschetschenisiert: Statt russischer Soldaten kämpfen jetzt Tschetschenen gegen die Aufständischen, die dafür von Moskau finanzielle Unterstützung und weitgehende politische Selbstständigkeit bekommen.

Kadyrows Schreckensherrschaft

Seit drei Jahren ist Ramzan Kadyrow Führer dieser Selbstverwaltung. Oppositionelle werden unterdrückt und Kadyrow spricht selbst davon, dass er in Tschetschenien die Scharia einführen wird, also das islamische Gesetz. Immer öfter gibt es Berichte, dass Frauen ohne Kopftuch schikaniert werden. Wer sich nicht mit Kadyrow arrangiert, hat nicht nur politisch sondern auch wirtschaftlich keine Überlebenschance.

Mordkommandos im Ausland

Im Weg stehen der Führung dabei vor allem die mehr als 100.000 Tschetschenen, die vor dem Krieg ins Ausland geflohen sind. Für den Geheimdienstexperten und Buchautor Andrei Soldatov ist offensichtlich, dass Vertreter des Regimes in Grozny auch im Ausland aktiv sind: "Es gibt eine ganze Kette von Morden im Ausland, die offenbar vom Kreml in Auftrag gegeben worden sind. Ich habe aber den Eindruck, dass es noch eine zweite Serie gibt, die sich gegen Leute richtet, die der tschetschenischen Führung gefährlich werden könnten. Wer für diese zweite Serie verantwortlich ist und wie viel der Kreml darüber weiß, ist allerdings schwer zu beurteilen. Das gilt auch für den Mord in Wien."

Kommen Hintergründe ans Licht?

Sowohl Soldatov als auch der Journalist Ismailov finden es gut, dass der Mord an dem Flüchtling Umar Israilov in Wien vor Gericht verhandelt wird. Dadurch bestehe die Chance, dass die Hintergründe ans Licht kommen. Und die sind zumindest für Wjatscheslaw Ismailov eindeutig: Er meint, mit den vorliegenden Informationen müsse sich klar belegen lassen, dass der Wiener Mord in Grozny in Auftrag gegeben worden ist.

Mittagsjournal, 16.11.2010

Prozessauftakt im Fall Israilov

Am 13. Jänner 2009 wurde auf offener Straße in Wien-Floridsdorf ein Mann brutal erschossen: Umar Israilov war Asylwerber aus Tschetschenien, dessen Asylgründe allein schon durch seine Klage beim Europäischen Menschrechtsgerichtshof gegen den Präsidenten Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, glaubhaft untermauert wurde: Er hatte angegeben, in Tschetschenien von Kadyrow persönlich gefoltert worden zu sein. Vergeblich hatte er in Wien um Polizeischutz gebeten.

"Definitiver Tötungsauftrag"

Das Wiener Landesamt für Terrorismusbekämpfung verdächtigt den Präsidenten Tschetscheniens, für die Ermordung des Asylwerbers in Wien verantwortlich zu sein. Es soll bereits im Juni 2008 - so heißt es im Abschlussbericht der Ermittlungen - ein definitiver Tötungsauftrag erteilt worden sein.

Kadyrow ist nicht angeklagt in Wien. Vor Gericht stehen heute drei Männer aus Tschetschenien. Der Todesschütze ist nicht unter den Angeklagten, weil er sich ins Ausland absetzen konnte.

Link

Mehr dazu in wien.ORF.at