Mexikos neue und experimentelle Musik floriert

Kraftvolle Stimmen

Im Oktober luden Angélica Castelló und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Wien zum "Kleinen Festival für unabhängige und revolutionäre Musik" und präsentierten dort einige der derzeit spannendsten Vertreterinnen und Vertreter der diversen neuen und experimentellen Musikszenen Mexikos.

Vom Wachsen einer neuen Weltstadt

Rogelio Sosas Antwort auf die Frage nach dem Befinden der diversen neuen und experimentellen Musikszenen in Mexiko fällt überraschend begeistert aus. Sosa ist der künstlerische Leiter des renommierten Radar Festivals in Mexico City.

"Was ganz stark wächst derzeit, ist das öffentliche Interesse an dieser Musik", erzählt Rogelio Sosa. "Das ist sehr wichtig. Ich mache dieses Festival nun schon seit beinahe zehn Jahren, und das Publikum ist verblüffend schnell gewachsen. Es hat sich in der Zeit wohl verfünffacht. Am Anfang kamen vielleicht hundert Leute und nun veranstalten wir riesige Konzerte. Es kommen auch viele Künstlerinnen und Künstler aus anderen Ländern nach Mexiko, um bei uns zu arbeiten. Mexiko City entwickelt sich gerade zu einer Weltstadt, neben etwa New York, Paris, Berlin oder Tokio."

Klangquelle Stimme

Rogelio Sosa hat in Frankreich unter anderem am CCMIX und am IRCAM Computermusik studiert, und viel Zeit mit der Komposition elektroakustischer Stücke verbracht, eine Herangehensweise an das Musikmachen, die ihm im Laufe der Zeit dann aber zu einengend erschien, wie er erzählt. Sosa wandte sich daraufhin immer mehr der Improvisation zu, einem Bereich, in dem er sich auch heute noch oft und gerne bewegt. Als Klangquellen dienen verschiedene Instrumente, die er aber alle nicht auf die vorgesehene Art und Weise spielen würde, wie der Musiker betont, und eine ganz zentrale Klangquelle ist für Rogelio Sosa seine eigene Stimme.

100 Prozent live

"Ich finde es interessant, wie man die Stimme modulieren und ihren Klang verändern kann", führt Rogelio Sosa aus. "Und man kann auf viele verschiedene Arten sehr expressiv sein. Man arbeitet auch mit einem sehr fundamentalen und ursprünglichen Sound. Und was noch wichtig ist, zu erwähnen: Eines meiner Prinzipien ist, nicht voraufgenommenes Material zu verwenden, bzw. nur voraufgenommenes Material, das ich während der jeweiligen Performance gerade in Echtzeit produziert habe. Ich riskiere gerne etwas, bin gerne in dieser Situation, in der ich sehr nervös bin und in der es auch schon einmal passieren kann, dass ich ungewollt ein Feedback auslöse, das dann zu einer noch größeren Anspannung führt. Genau in diesen Zustand möchte ich geraten!"

Waterbird Soundscape

In einem ganz anderen, aber ebenfalls sehr engagierten Projekt beschäftigt sich auch Manrico Montero mit der Kraft der Stimme. Besonders intensiv widmet sich Montero zurzeit einer Reihe von in Mittel- und Südamerika beheimateten Wasservogelarten, dokumentiert ihre Sprachen und die Klanglandschaften, in denen sie leben, mit großer Konzentration und Leidenschaft. So entsteht gerade Schritt für Schritt eine für alle zugängliche Datenbank im Internet, unterteilt in das "Waterbird Soundscape Project" und in das "Wetland Soundscape Project", die sich in naher Zukunft auch in einem Buch und zwei DVDs verdichten sollen.

Nicht einfach nur A auf B

Nach dem Ursprung seiner Faszination für im speziellen Wasservögel gefragt, erzählt Manrico Montero, dass ihn Sprache immer schon interessiert hat, und, so der Künstler und Soundaktivist weiter, er hätte auch immer schon den Gedanken befremdlich gefunden, dass Menschen über die, wie es heißt, am höchsten entwickelte Form von Sprache verfügen. Dies würde so einfach nicht stimmen, "denn was ist komplex?", hält Montero dem entgegen:

"Diese Annahme, dass die menschliche Sprache über allen anderen Sprachen steht, das ist Masturbation! Das stimmt so überhaupt nicht! Auch die Tiere kombinieren nicht einfach nur A und B, wie das behauptet wird, tatsächlich ist ihre Kommunikation hoch komplex. Wenn man sich das Spektrogramm anschaut, von einer gerade einmal drei-sekündigen Vogelgezwitscher-Aufnahme, oder auch von einer Aufnahme, die nur eine Millisekunde dauert, dann wird man erstaunt feststellen, dass bereits dieser winzige Zeitabschnitt eine Fülle an Informationen in sich birgt. Der Mensch kann diese Informationen einfach nur nicht aufschlüsseln, weil seine Wahrnehmung des Frequenzspektrums beschränkt ist, weil es ihm an Zeit fehlt, um die Informationen entsprechend erfassen zu können, weil es ihm an Übersichtlichkeit fehlt, aus allen möglichen Gründen. All die verschiedenen Klangschattierungen und Harmonien, die in so einem kurzen Stückchen Vogelgezwitscher stecken, das ist einfach unglaublich!"

Manrico Monteros Annäherungsprozess an den Klang seiner Instrumente verläuft ganz ähnlich: "Man kann zum Beispiel auch die Aufnahme einer Harfe vom Computer entsprechend analysieren und in einem Spektrogramm darstellen lassen, um sie dann wie ein Chirurg fein säuberlich auseinanderzunehmen und zu studieren."

Mandorla

Manrico Montero ist auch die treibende Kraft hinter dem Label Mandorla, einem wichtigen Knotenpunkt im Netzwerk der aktuellen neuen und experimentellen mexikanischen Musik. Auch seine Zustandsanalyse der diversen Szenen fällt euphorisch aus. Verteilt über das gesamte Land gäbe es eine Vielzahl an Labels, Festivals und anderen Initiativen, so Montero.

"Schon alleine die Quantität der Künstlerinnen und Künstler derzeit ist beeindruckend", meint Montero nicht minder begeistert wie Rogelio Sosa. "Natürlich gibt es noch viel zu tun, ich möchte die Situation jetzt auch gar nicht idealisieren. Aber ich lebe zurzeit ja vorwiegend in Bolivien - ich reise oft nach Mexiko, aber mein Hauptwohnsitz ist gerade in Bolivien, bei den Wasservögeln dort, und ja, also ich muss sagen, von außen betrachtet: Diese Aufbruchsstimmung, die soeben in Mexiko herrscht, ist so inspirierend! Mexiko könnte für Sound Art, experimentelle Musik, auch für im akademischen Kontext verankerte elektroakustische Musik ein Zentrum werden. In all diesen verschiedenen Bereichen sind mittlerweile viele Künstlerinnen und Künstler aktiv."