Seltsamer Roman von Yann Martel
Ein Hemd des 20. Jahrhunderts
"Never Change a Winning Team". Diesem Motto fühlt man sich nicht nur im Sport verpflichtet, sondern auch in der Literatur. Da wird ebenfalls eine einmal gefundene Erfolgsformel nicht leichtfertig über Bord geworfen. Yann Martels neues Buch bestätigt dies eindrucksvoll.
8. April 2017, 21:58
Berühmt wurde der Autor mit seinem Roman "Schiffbruch mit Tiger". In diesem Text erleidet ein junger Mann gemeinsam mit einer Hyäne, einem Orang-Utan, einem verletzten Zebra und einem 450 Pfund schweren bengalischen Tiger Schiffbruch. So, als wollte Martel seinen Ruf als der "Schriftsteller mit den Tieren" festigen, spielen im neuen Roman ein Okapi, ein Brüllaffe und ein Esel eine wichtige Rolle. Zwar sind sie ausgestopft, aber das ist nicht so wichtig.
Auch der S. Fischer Verlag hält an seiner Strategie fest, die recht einfachen englischen Romantitel durch absurd anmutende deutsche zu ersetzen. "Schiffbruch mit Tiger" hieß im Original "Life of Pi". Und aus "Beatrice and Virgil" wurde "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts". Und - zu guter Letzt - ist die Handlung des neuen Romans um nichts weniger absurd als die seines Vorgängers.
Ein Autor steigt aus
Alles beginnt damit, dass der erfolgreiche Autor Henry ein Buch über den Holocaust verfassen will. Wie kann man über den Schrecken schreiben? Wie die unaussprechlichen Gräuel in Worte fassen? Und wie einen Text über die Judenvernichtung verfassen, der sich anders liest, als all das, was es bereits in Hülle und Fülle gibt? Fünf Jahre widmet sich Henry diesem Projekt und dann sitzt er in London seinem Verleger, einem Buchhändler und einem Historiker gegenüber. Und die vernichten das Manuskript nach allen Regeln der Kunst. Der Autor ist verletzt, zweifelt an seinem Können und beschließt, die Literatur von nun an Literatur sein zu lassen. Gemeinsam mit seiner Frau reist er um die Welt und siedelt sich dann in einer fremden Stadt an.
Henrys einziger Kontakt zu Literatur ist die Fanpost, die er nach wie vor erhält. Eines Tages bekommt er einen besonders umfangreichen Brief. Darin enthalten ist die Kopie einer Erzählung von Gustave Flaubert: "Die Legende von St. Julian." In dieser recht unkonventionellen Story erzählt der französische Meister von eben jenem Julian, der mit ungeheurer Brutalität Tiere hinmetzelt. Wie es der Zufall will, lebt der Absender des Päckchens in der gleichen Stadt wie Henry. Also sucht dieser ihn und findet einen Tierpräparator. In dessen Auslage steht ein ausgestopftes Okapi, das dem Geschäft seinen Namen gibt und das Buchcover der deutschen Ausgabe ziert.
Der Affe und die Eselin
Hier nun wird dieser Roman, der bis dahin schon eine seltsame Mischung aus postmodernem Text-im-Text und Märchen ist, vollends absurd. Denn nicht nur heißt der Präparator genauso wie der Autor a. d., er schreibt auch Geschichten. Oder besser gesagt eine Geschichte. Seit unzähligen Jahren schon arbeitet er an einem einzigen Theaterstück. Dessen Helden sind die Eseln Beatrice und der Brüllaffe Vergil. Beatrice und Vergil heißen auch der ausgestopfte Affe und die ausgestopfte Eselin, die sich im Geschäft befinden. Ja, ja, bei Martel hat alles zumindest einen doppelten Boden und eine dreifache Bedeutung.
Immer wieder treffen sich die beiden Henrys und mehr und mehr wird von dem seltsamen Theaterstück enthüllt. In dem unterhalten sich zu Beginn die beiden Tiere über das Aussehen und den Geschmack einer Birne. Um die Absurdität noch zu steigern, spielt das Stück auf einem Hemd. Deshalb auch der Titel der deutschen Ausgabe.
Irgendwann im Laufe des Romans ändert sich die Anmutung des Stückes. Was zuerst noch wie eine Hommage an Beckett oder Ionesco anmutet, wird unvermittelt zu einem Lehrstück über Barbarei, Folter und Massenmord. Denn das Hemd des 20. Jahrhunderts, auf dem das Stück spielt, ist ein gestreiftes Hemd, und damit sind wir auch schon bei den Konzentrationslagern und dem Holocaust. Der Roman, der Henry dem Autor am Beginn des Buches nicht gelingen wollte, wird von Henry, dem Präparator geschrieben. Der, und das wird sich erst am Ende herausstellen, eine unrühmliche Vergangenheit hat.
Gelungenes Experiment
Das alles klingt sehr kompliziert und das ist es auch. Und es klingt - wenn man es so nacherzählt - auch äußerst manieriert. Und auch das ist es. Aber seltsamerweise schadet dies alles dem Roman nicht. Es ist das ein Beweis von Martels literarischem Können, dass der Leser ihm selbst in die paradoxesten Regionen folgt, ohne sich über eben jene Absurdität den Kopf zu zerbrechen.
Es stimmt schon, dass dieser Text an einer ungeheuerlichen allegorischen Überfrachtung leidet, und die unzähligen literarischen Verweise und Zitate nicht immer überzeugend eingesetzt sind. Aber eben so stimmt es, dass es Martel gelungen ist, das Grauen bewegend und packend zu beschreiben. Und dass der Leser noch lange, nachdem er das Buch beendet hat, sich den Kopf über all das seltsame, dem er hier begegnet ist, zerbrechen wird.
Service
Yann Martel, "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts", aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, S. Fischer Verlag
S. Fischer - Yann Martel