Die erste Frau der Wissenschaft

Marie Curie

Barbara Goldsmith war prädestiniert, eine Biografie über die Physik- und Chemie-Nobelpreisträgerin Marie Curie zu schreiben. Als Teenager, erzählt die prominente Historikerin und Bestsellerautorin, hing ein Bild der Wissenschaftlerin mit ihren beiden Töchtern, Irène und Eve, in ihrem Zimmer.

Ein Leben voller Leidenschaft

"Ich habe sie für ihre Unabhängigkeit bewundert. Und das in einer Zeit, als Frauen sich Männern unterordnen mussten: Frauen - hat es damals geheißen - seien emotionaler als Männer und neigten zu Hysterie", erklärt Barbara Goldsmith. "Solange Pierre Curie am Leben war, wurde Marie vom wissenschaftlichen Establishment immer als seine Assistentin betrachtet."

Im Mittelpunkt von Barbara Goldsmiths Curie-Biografie steht die Frau und nicht die Forschung. Albert Einstein sagte in einem berühmt-berüchtigten Ausspruch: Marie Curie sei kalt wie ein Hering. Damit lag er falsch. Denn Marie Curies Leben war voller Leidenschaft, und diese galt nicht nur der Wissenschaft.

Faszinierende Notiz- und Tagebücher

Barbara Goldsmiths Hauptquellen waren Briefe sowie Notiz- und Tagebücher, die die Curie-Familie erst in den 1990er-Jahren der Bibliothèque Nationale in Paris schenkte. Ursprünglich waren alle Papiere radioaktiv. Marie Curies Enkelin, die Physikerin Helène Langevin-Joliot, hatte diese in einem drei Jahre dauernden Prozess dekontaminiert.

Nur ein oder zwei Blätter hat man zu Demonstrationszwecken verstrahlt belassen. Wenn man einen Geiger-Zähler darüber hält, zeigt er mit seinem charakteristischen Ticken Radioaktivität an.

"Sie ist großartig", erzählt von Goldsmith von der Lektüre der Unterlagen Marie Curies. "Sie hat diese klitzekleine Handschrift. Meistens schrieb sie in Französisch, manchmal in Deutsch. Ein paar Passagen sind polnisch. Dafür brauchte ich einen Übersetzer. Sie schrieb auch wunderschönes Englisch. Ich könnte niemals in vier Sprachen wirklich gut schreiben. Oder besser gesagt: Was heißt hier gut schreiben - ich könnte es überhaupt nicht."

Verwirklichung eines Traums

Die zweifache Nobelpreisträgerin wuchs als Maria Salomee Sklodowska in Warschau auf. Sie war erst 11 Jahre alt, als ihre Mutter an Tuberkulose starb. Die Faszination der Wissenschaft wurde ihr väterlicherseits mitgegeben, schreibt Goldsmith:

Als Vierjährige stand sie fasziniert vor einer Vitrine mit mehreren Fächern, in denen es zahlreich wunderliche, zierliche Dinge zu sehen gab, gläserne Röhren, leicht gefügte Waagen, verschiedene Mineralien und sogar ein Elektroskop mit einem Goldblatt. Professor Wladislaw Sklodowski erklärte seiner staunenden Tochter, das sei seine "Physikausrüstung". Die Vitrine blieb verschlossen, seit die Kurse von Professor Sklodowski nach dem blutig niedergeschlagenen Januaraufstand des Jahres 1863 nicht mehr stattfinden durften. Marie Curie schreibt, ihr Vater sei durch die russische Unterdrückung um eine möglicherweise herausragende Wissenschaftlerkarriere gebracht worden. Marie sollte, wie so viele Kinder, die unerfüllten Träume des Vaters verwirklichen.

1903 wurde den Curies, gemeinsam mit Henri Becquerel, der Nobelpreis für Physik für die Erforschung von Strahlenphänomen verliehen. Ursprünglich hatte das Nobelpreiskomitee Maries Beitrag ignoriert. Der Preis wurde ihr nur deshalb mitzuerkannt, weil Pierre drohte, ihn zu verweigern, wenn nicht auch Marie nominiert würde.

"Bei der Nobelpreiszeremonie hat Pierre gesagt: Ich war der Assistent meiner Frau. Sie hat die Entdeckung gemacht. Ich habe nur geholfen", erzählt Goldsmith. "Für die damalige Zeit war das sehr ungewöhnlich. Aber bei der Zeremonie war es dann dennoch so, dass Pierre auf dem Podium stand und geehrt wurde. Marie musste im Publikum sitzen. "

Vorrang der Forschung

Marie Curie machte nie halbe Sache. Sie verbrachte oft Nächte im Labor, weil sie erst mit der Arbeit aufhörte, wenn sie sich - im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Als sie Pierre heiratete, widmete sie sich - zumindest kurzfristig - mit Feuereifer dem Kochen. Und nach der Geburt ihrer ersten Tochter, Irène, wollte sie alles über Babypflege erfahren. Doch die Forschung hatte bald wieder Vorrang.

"Maries jüngere Tochter Eve war ein großes Klaviertalent. Das war Marie überhaupt nicht bewusst. Sie hat immer geklagt, dass sie sich das Geklimper anhören muss. Sie hat Eve nicht ermutigt und hat sie auch oft kritisiert. Eve war schön, gesellig und sie trug Make-Up. Marie war fassunglos, dass sie eine Tochter hatte, die ausging und sich wie eine Zigeunerin anzog", berichtet Goldsmith. "Doch ihre ältere Tochter Irène war wie sie selber. Marie hat sie vergöttert und gefördert. Einmal hat sie etwas psychologisch sehr Enthüllendes gesagt: Meine Tochter ist mein Pierre."

Trennung von Person und Beruf

1911 wurde Marie Curie der zweite Nobelpreis, diesmal in Chemie, für die Isolierung von Radium verliehen. Die Witwe hatte damals eine leidenschaftliche Beziehung mit einem verheirateten Wissenschaftler. Dessen Frau machte die Liaison publik. Das Resultat: ein spektakulärer Skandal. Das Nobelpreiskomitee legte ihr deshalb nahe, zur Preisverleihung nicht zu erscheinen.

"Sie war das Opfer der Skandalpresse, die damals nicht viel anders war als heute", erklärt Goldsmith. "Wenn ein Mann damals Affären hatte, galt er als viril und Lebemann. Doch wie es einer Frau erging, wenn sie eine Affäre hatte, braucht man nur bei Klassikern wie 'Madame Bovary' nachzulesen. Die Maßstäbe waren ganz andere als heutzutage. Und daher gefällt mir auch Marie Curies Reaktion so gut. Sie schrieb damals an das Nobelpreiskomitee: Mein persönliches Leben sollte mit meinem beruflichen nichts zu tun haben. Ein solcher Brief war seiner Zeit um 100 Jahre voraus."

Gefährlichkeit des Elements

Die Pionierarbeit über Radioaktivität hatte ihren Preis. Beide, Pierre und Marie Curie, wurden Opfer ihrer Forschung. Pierre starb zwar bei einem Verkehrsunfall, doch er litt schon seit Jahren an Müdigkeit, Lethargie und diffusen Schmerzen. Marie Curie starb an pernizöser Anämie. Doch sie leugnete bis zuletzt, dass Strahlenschäden für ihre Krankheit verantwortlich waren.

"Wie in aller Welt konnte ihr die Gefährlichkeit des Elements nichts bewusst sein", wundert sich Goldsmith. "Wie konnte sie leugnen, dass es tödlich war? Diese Frage konnte ich nicht beantworten. In ihren Briefen habe ich nichts gefunden. Auch ihre Tochter Eve, die bei unserem Interview an die 100 Jahre alt, aber geistig sehr flink war, wusste es nicht. Die Enkelin Helène Langevin-Joliot konnte es sich auch nicht erklären. Auch Pierre hat die Gefährlichkeit immer ignoriert. Allerdings kann man beiden anfangs zugutehalten, dass sie es nicht wissen konnten. Sie hofften, eines Tages damit Krankheiten heilen zu können."

Die Antwort auf diese Frage liegt vermutlich in einem Ausspruch Marie Curies: "Ich liebe Wissenschaft. Und es ist mir egal, welchen Preis ich dafür zahlen muss."

Service

Barbara Goldsmith, "Marie Curie. Die erste Frau der Wissenschaft", aus dem Amerikanischen übersetzt von Sonja Hauser, Piper Verlag

Piper Sachbuch - Marie Curie