Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra

Konkrete Utopie

1999 hat Daniel Barenboim das West-Eastern Divan Orchestra mit dem mittlerweile verstorbenen palästinensischen Philosophen Edward Said gegründet. Seither bespielt er mit den jungen Musikern aus den Konfliktzonen des Nahen Ostens die renommiertesten Konzertsäle der Welt.

Proben in Spanien

Pilas, ein kleiner, alles andere als attraktiver Ort, 50 Kilometer westlich von Sevilla, ist nicht einmal Wikipedia einen Eintrag wert. Staubige Straßen, Häuser wie aus einem Wild-West-Film, kein Restaurant, das den Namen verdient. Einige ebenso laute wie verrauchte Bars mit Glückspielautomaten, wo man auch Kleinigkeiten zum Essen bekommt. Und doch ist Pilas nicht die letzte unter den spanischen Gemeinden.

Hier probt mit Unterstützung der andalusischen Regionalregierung jeden August das legendäre West-Eastern Divan Orchestra Daniel Barenboims in einem kurzfristig zweckentfremdeten Priesterseminar, das 80 jungen Musikerinnen und Musikern aus den Konfliktregionen des Nahen Ostens Platz bietet. Hier üben sie einzeln und spielen zusammen, hier wohnen, essen und diskutieren sie, hier schlagen sie sich nach hitzigen Debatten durch die das Gebäude umgebenden Büsche, um sich zu sehr später oder früher Stunde im nachts geschlossenen Schwimmbad abzukühlen. Nur eines tun sie in der aufregenden Zeit ihrer kurzen Gemeinschaft kaum: schlafen.

Bei diesem anstrengenden, alle Sinne erfassenden Lebenswandel ist ihre Lust, der extra aus Österreich angereisten Radiojournalistin Interviews zu geben, enden wollend. "Sie können bei den Proben aufnehmen. Ich vermittle Ihnen auch gern ein Gespräch mit einer Musikerin aus Israel und einem Musiker aus dem arabischen Raum und natürlich mit ein, zwei Lehrern", sagt die ebenso freundliche wie strenge Pressechefin. Zwei Musiker/innen, bei den vielen involvierten Ländern? Und wie steht es um ein Gespräch mit Maestro Barenboim? "Sie sind mit seiner Zustimmung hier. Er wird zehn Minuten für Sie erübrigen, wenn er gerade einmal Luft hat."

Musikerin und Lehrerin

Schöne Aussichten - ich hatte mir ein wenig mehr "Embedded Journalism" vorgestellt, auch wenn hier kein Krieg herrscht, sondern kreativer Friede im Geiste der Musik. Aber auch in der Hitze Andalusiens wird nicht so heiß gegessen wie gekocht. Zum Glück hilft mir Elena Cheah, weder Araberin noch Israelin, sondern eine aus Pittsburgh stammende Cellistin, die heute in Berlin lebt.

Sie kam 2006 als Professionalistin zum Orchester, als einige Musiker wegen des Libanonkrieges nicht anreisen konnten. Seither ist sie in der Doppelfunktion als Musikerin und Lehrerin mit dabei. In ihrem Buch "Die Kraft der Musik. Das West-Eastern Divan Orchestra" hat sie das Ensemble von innen heraus porträtiert und sich nicht gescheut, auch Konflikte anzusprechen.

"Das Orchester ist der Mikrokosmos einer Gesellschaft, die es eigentlich nicht gibt", schreibt sie. "Der Divan ist zum Mythos geworden, weil er eine Alternative anbietet", sagt der Maestro persönlich, der sich schließlich doch länger als zehn Minuten für ein Gespräch Zeit nimmt. "Er ist ein Mythos geworden, weil er zeigt, was möglich wäre, wenn..."

Resolution zu Gewaltfreiheit

1999 hat Barenboim das Ensemble gemeinsam mit dem mittlerweile verstorbenen palästinensischen Philosophen Edward Said gegründet. Seither bespielt er mit den jungen Musikerinnen und Musikern aus Palästina, Syrien, Ägypten, dem Libanon und Israel die renommiertesten Konzertsäle der Welt. Auch als zum Jahreswechsel 2008/2009 Gaza bombardiert wurde, war der Divan auf Tournee. Das haben die Musiker/innen ohne Beisein ihres Maestros autonom entschieden. In einer gemeinsamen Resolution bekannten sie sich zu Gewaltfreiheit und einer Zweistaatenlösung.

"Das war eine fantastische Resolution", sagt die Geigerin Sharon Cohen aus Israel, "alle konnten zustimmen." Sie erinnert sich an das Misstrauen, das ihr von arabischer Seite entgegenschlug, als sie im Jahr 2003 zum Divan kam. Damals hatte sie gerade den obligaten Militärdienst in der israelischen Armee absolviert. Starker Tobak für die Palästinenser. "Es war schwer, den arabischen Musikern zu vermitteln, dass ich trotzdem keine gewalttätige Person bin, aber mittlerweile wurde es verstanden."

Gelebter Konsens

Sharon Cohen ist auch ein Kapitel im Buch von Elena Cheah gewidmet. Sie war die erste, aber keineswegs die letzte, die es wagte, dem Maestro zu widersprechen. Damals ging es um eine Resolution anlässlich des Libanonkriegs, bei der ihr der Chef zu parteiisch schien. "Ach, das ist so lange her", sagt Sharon, "aber mir gefiel das gegenseitige Aufrechnen nicht. Ihr habt dieses gemacht und wir jenes. Man kann sich nicht einigen, wenn es ins Detail geht. Aber wir alle sind uns einig, dass Gewalt nichts bringt."

Das ist Konsens. Auch Ramzi Aburedwan aus Ramallah ist dezidiert gegen Gewalt. Aber er wünscht sich sehr wohl konkrete Forderungen des Orchesters - mehr als den kleinsten gemeinsamen Nenner. Im Gazastreifen, der so isoliert ist, dass kein Divan-Musiker von dort herkommen kann, wurde die einzige Musikschule zerbombt. "Warum", fragt er, "schneidet man die Menschen dort von den restlichen Palästinensern ab? Es ist gegen das Menschenrecht!"

Ramzis Großeltern wurden 1948 nach der Gründung des Staates Israel aus Bethlehem verjagt. Er ist in einem Flüchtlingslager aufgewachsen, in dem es nicht einmal Platz zum Spielen gab. Mit sechzehn bekam er zufällig eine Viola in die Hand, normalerweise viel zu spät, um ein Streichinstrument zu erlernen. Aber Ramzi übte so begeistert, dass er es schaffte und von den Talentsuchern des Divan entdeckt wurde.

Sieben Jahre hat er in Paris studiert, wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen könnte er heute in einem europäischen Orchester spielen. Aber er ging zurück nach Palästina und gründete Musikschulen, in denen das Divan-Orchestra heute seinen Nachwuchs findet.

Autoritär und demokratisch zugleich

Ist der Divan ein politisches Projekt? "Nein", meint der Cellist Nassib Al Ahmadi aus dem Libanon, "ich bin hergekommen, um auf hohem Niveau Musik zu machen." Aber durch den Kontakt mit der anderen Seite verändere sich die eigene Sichtweise: "In unseren Ländern sind wir voneinander abgeschnitten. Wir können nicht zum Telefon greifen, selbst der E-Mail-Kontakt wird kontrolliert." Heute ist er mit Sharon und vielen anderen Israelis befreundet.

Und der Maestro? Er kennt den Bewusstseinsprozess, den seine Musikerinnen und Musiker durchmachen. Schließlich stammt er selbst aus einer zionistischen Familie, die von Argentinien nach Israel einwanderte, als er noch ein Kind war. Er war 30, als Jordanien im "Schwarzen September" einen Palästinenseraufstand blutig niederschlug und ein Flüchtlingslager in Amman bombardierte, in dem sich auch Aufständische versteckten.

"Damals hat die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir eine Rede gehalten und erklärt, es gibt kein palästinensisches Volk. Wir sind die Palästinenser! Da sind mir die Augen aufgegangen, das war die Wende." Israel, sagt Barenboim, dürfe keine Okkupationsmacht sein, "das ist menschlich, moralisch und politisch falsch."

Wenn der Maestro mit dem Divan probt, ist er ganz bei sich. Er ist so autoritär wie demokratisch, das soll ihm erst mal einer nachmachen. Er kennt alle Musikerinnen und Musiker beim Namen, und er kennt ihre Probleme. Er tobt, wenn einer fehlt, er zerschlägt vor Begeisterung oder aus Verzweiflung den Dirigentenstab, er motiviert, feuert an und beschwichtigt, er freut sich auf das gemeinsame Mittagessen, er fiebert der nächsten Probe entgegen. Das West-Eastern Divan Orchestra, sagt er, sei das wichtigste Projekt seines Lebens.

Service

Elena Cheah, "Die Kraft der Musik. Das West-Eastern Divan Orchestra", übersetzt von Stefanie Karg, Edition Elke Heidenreich

Daniel Barenboim, "Klang ist Leben. Die Macht der Musik", übersetzt von Michael Müller, Siedler-Verlag

West-Eastern Divan Orchestra

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