Zwölf Substanzen, die die Welt veränderten

Von Alkohol bis Zucker

Das Image der "Lehre vom Aufbau, Verhalten und der Umwandlung von Stoffen" könnte durchaus besser sein. Der Vorarlberger Chemiker, Journalist und Autor Christian Mähr hat deshalb zur Einstimmung auf das "Jahr der Chemie" das Buch "Von Alkohol bis Zucker" herausgebracht hat.

Chemie in dieser Form ist eines jener Wissenselemente, die bei den meisten Menschen einem aktiven Vergessensprozess unterliegen, wenn sie jemals gezwungen waren, sie sich anzueignen. Diese Inhalte werden verdrängt wie traumatische Erlebnisse. Als ob ihr Im-Gedächtnis-Behalten einen seelischen Schaden auslösen könnte.

Um Ex-Schülern den bitteren Nachgeschmack zu nehmen, den der Chemie-Unterricht hinterlassen hat, spielt der Autor gleich zu Beginn seinen süßesten Trumpf: C12H22O11, besser bekannt unter dem Namen Zucker. Wobei er auch erklärt, dass die Summenformel der Saccharose eigentlich wenig aussagt. Man erfährt nur, dass ein Molekül aus 12 Kohlenstoffatomen, 22 Wasserstoffatomen und 11 Sauerstoffatomen besteht.

Diese Information sei ähnlich einer Immobilienanzeige: "3 Schlafzimmer, Küche, Bad, Salon". Wie die Zimmer angeordnet sind, - und darauf kommt es schließlich an, - wird durch die Summenformel allein nicht verraten. Deshalb hat 1858 der Deutsche Friedrich August Kekulé - bezeichnenderweise ein ehemaliger Architekturstudent - die Strukturformel eingeführt. Mit ihrer Hilfe konnte man erstmals erkennen, wie Atome in einem Molekül verbunden und im Raum angeordnet sind.

Süßer Imagewandel

Noch spannender ist nur die Geschichte des Zuckers selbst: Sein Wandel von der begehrten Delikatesse zum dubiosen Massenprodukt.

Zucker hat eine schlechte Presse. Er ruiniert die Zähne, entzieht den Knochen das Kalzium, die dadurch schwächer werden - fatal, wo sie doch das durch Zuckerkonsum ohnehin weit überhöhte Körpergewicht tragen müssen. Zucker macht fett, die Amerikaner sind das beste Beispiel. Die essen sehr süß. Zucker ist eine Droge.

Wie kam es zu diesem radikalen Imagewandel? Seit tausenden Jahren gehört Zucker zu den beliebtesten Naturstoffen. Polynesische Seefahrer füllten durch Kauen von Zuckerrohrstängeln ihre Energiereserven auf. Im ersten Jahrhundert nach Christus bekamen die Römer Wind von seinen "magischen" Eigenschaften und bezogen ihre Vorräte aus dem Nahen Osten. Als man entdeckte, dass der braune Rückstand, der beim Eindicken des Presssaftes entsteht, viel haltbarer ist als das Rohr selbst, war seinem Aufstieg zum süßen Luxusgut nichts mehr entgegenzusetzen.

Zucker blieb bis in die Neuzeit extrem teuer. Da man lange glaubte, dass, je teurer das Mittel sei, desto besser müsse es wirken, hat man ihn sogar gemeinsam mit zerstoßenen Diamanten und gemahlenen Perlen als Wundermittel gegen die Pest eingesetzt. Der Erfolg blieb bekanntlich aus. 1747 fand der Berliner Apotheker Andreas Sigismund Marggraf heraus, dass in der ordinären Runkelrübe der gleiche Süßstoff enthalten ist, wie im tropischen Zuckerrohr. Eine Entdeckung, die zu einer gigantischen industriellen Herstellung von Zucker in allen erdenklichen Formen führte und sich gegenwärtig zahlenmäßig so darstellt:

Die Weltproduktion liegt heute bei 157 Millionen Tonnen, vier Fünftel stammen aus Zuckerrohr, der Rest aus der Rübe. Europa erzeugt 15 Prozent der Weltproduktion.

Die Welt der "Zuckerjunkies"

Wo die abstrakte Wissenschaft Chemie ganz konkret wird und wo wir Menschen ihr keinesfalls entkommen, ist in unseren Körpern. Das Buch geizt da nicht mit neuesten Erkenntnissen aus der Forschung. Der Zucker wirkt demnach unter anderem deshalb so attraktiv, weil durch ihn der Serotonin- und Dopamingehalt ansteigt und so vermehrt Endorphine gebildet werden, die wiederum das Schmerzempfinden verringern.

Ein niedriger Spiegel des "Wohlfühlhormons" Serotonin kann zu depressiven Zuständen führen. "Zuckerjunkies" - also Menschen, die bei Abstinenz schwere Entzugssymptome zeigen - gibt es allerdings nicht. Natürlich ist zu viel trotzdem nicht gesund, genauso wie bei C2H5OH, dem Äthanol oder Alkohol, einer weiteren vorgestellten Substanz.

"Jetzt no die Reblaus ..."

Der historische Abriss des Autors zeigt, dass vor allem das Abendland seit Jahrhunderten von Alkohol durchtränkt ist: gärender Met in den Lehmhütten der Germanen, Weinseligkeit in den Häusern der Römer, Bierschwemmen in den mittelalterlichen Städten, Schnaps als täglich letzter Trost in den Baracken der Proletarier und edle Brände in den Salons der Bürger und Adeligen.

Christian Mähr meint sogar, dass der Einfluss des Alkohols auf sämtliche geschichtliche Entwicklungen durchaus "maßgebend" war:

Man kann nicht mehr als zwei Jahrtausende Kulturgeschichte ohne die Tatsache rekonstruieren, dass die Beteiligten (und zwar alle) mal mehr, mal weniger, aber dauernd einen in der Krone hatten! Denn nichts anderes bedeutet die über viele Jahrhunderte sich streckende Aversion, reines Wasser zu trinken. Erst mit dem Aufkommen von Tee und Kaffee ist eine Kultur der Nüchternheit überhaupt möglich geworden.

Breitgefächerte Auswahl

Welche Substanzen haben es in die Top-12 des Autors geschafft? Neben Zucker und Alkohol sind einige Überraschungen zu finden. Zum Beispiel: DDT, das Pestizid, das in den 1970er-Jahren verboten wurde, seit 2004 aber bei der Malaria-Bekämpfung ein unerwartetes Comeback feiern durfte. Oder Anilin, das in der chemischen Industrie als Ausgangsstoff für die Synthese von Farben und Kunstfasern verwendet wird. Aber auch Ammoniak, Soda und Chinin hätte man in dieser Liste nicht unbedingt erwartet.

Die Wirkungen und eventuellen Nebenwirkungen der verbleibenden Substanzen sind uns hingegen hinlänglich bekannt: Benzin, Penicillin, Coffein, die Antibabypille und Gummi. Christian Mähr schildert in lockerem Plauderton zwölf Mal Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Stoffe, "die die Welt veränderten". Er beleuchtet durchaus laientauglich Wissenswertes über deren chemische Zusammensetzung und würzt das Ganze mit einer deutlichen persönlichen Note.

So erfährt man etwa, dass der Autor selbst lieber Kaffee als Tee trinkt, weil letzterer diesen so nervös mache. Insgesamt ist dem Vorarlberger aber ein sehr vergnüglicher Einblick in die Materie gelungen, der jedenfalls als brauchbare Einstimmung auf das "Jahr der Chemie" angesehen werden kann.

Service

Christian Mähr, "Von Alkohol bis Zucker. 12 Substanzen, die die Welt veränderten", DuMont Verlag

Dumont - Christian Mähr
Wissenschaftsbuch des Jahres