Zum 70. Geburtstag von Placido Domingo

Das musikalische Hier und Jetzt

"Mein" Domingo. Von 1978 bis heute: viele Sternstunden, viel Mit-Zittern, und immer das Gefühl, dass es Placido Domingo um nichts geht als um das musikalische Hier und Jetzt. Zu Domingos 70. Geburtstag am Freitag, 21. Jänner 2011: sehr persönliche Reminiszenzen von Chris Tina Tengel.

33 Jahre Leben mit einem Phänomen

1976: das erste Spulentonbandgerät. 1977: der erste via Ö1 miterlebte Salzburger Festspielsommer. 1978: die ersten großen Domingo-Erlebnisse. Von welchem anderen Sänger, der damals "top" war, sind heute noch, fast 35 Jahre später, die Kulturseiten der Zeitungen voll?

Von den heftigen Pro- und Contra-Debatten meiner späteren Staatsopern-Stehplatz-Jahre bis heute, wo man mir die neusten Domingo-Live-Dokumente zusteckt (Domingo-Auftritten wird selbstverständlich nachgereist, kleine Mikros tun ihren Dienst!) und ich nur meine Mailbox zu öffnen brauche, um die neuesten Gerüchte, Pläne, Befindlichkeiten von "PD" erzählt zu bekommen - ist darüber wirklich mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen?

Ein Großer im Sich-Verschenken

Ich sehe mich noch das Mikrophon aufbauen vorm TV-Lautsprecher. Es ging um Karajans groß inszenierte Rückkehr an die Wiener Staatsoper, 1978. Placido Domingo war das Gegenteil des Karajan-Favoritsängers, bis Franco Bonisolli das Manrico-Schwert hinschmiss. Domingo wagte es, einzuspringen, und es gibt in dieser Aufführung (gottlob auf CDs greifbar!) Domingo-Phrasen, von denen bis heute eine körperliche Erinnerung da ist, wie sie mir damals das Herz aufgerissen haben.

Nota bene war Domingo zu dieser Zeit kein "sicherer" Sänger: aus einem belegten Ton konnte jederzeit ein "Frosch" werden, ein gefürchteter Versager. Er war (ist es bis heute! selbst Kollegen können Lieder davon singen!) ein Großer im Sich-Verschenken, das hohe C in der "Stretta" aber schmiss er ... beinahe. (Was wurden Witze gerissen, wie Jahre später die bedächtige Giulini-Aufnahme des "Troubadour" herauskam - und der Ton da war!)

Domingos Intensität als Anstoß

Man musste gar nicht immer auf den Stehplatz in der Oper: Ö1 und das Fernsehen brachten einem alles Wesentliche mit Placido Domingo ins Haus. So war er mein erster Don José - unvergesslich der genial über alle Taktstriche hinwegfechtende, -streichelnde, -federnde Carlos Kleiber, unvergesslich auch Franz Endlers Vernichtungsurteil über die Carmen-Interpretin von damals: "anlassig"!

Allein dass er, Domingo, und Kleiber hier zusammentrafen, war mir Grund genug, in eine "Carmen"-Partitur (!) zu investieren - und danach, wann immer Domingo mit einer neuen Rolle kam (Enzo in "La gioconda"!) zumindest in einen Klavierauszug. So rutscht man hinein, und irgendwann lässt es einen nicht mehr los. Er war auch mein erster André Chenier, klarerweise: Staatsoper 1981. Wie viel mehr Legato-Strahl möglich war: Später machten es die diversen Corelli-Aufnahmen klar. Aber die Leidenschaft hinter allem ... "Un dì all'azzurro spazio" ... wahrscheinlich bleibt mir das Bild von Domingo in diesem Moment für immer. (Plus den erotisierenden Sopran-Tönen der unvergleichlichen Gabriela Benackova!)

Platten- und Live-Erlebnisse

Er war keinesfalls mein erster Otello, aber wie anders, wie viel menschlich einleuchtender als bei den del-Monaco- und Vinay-Riesenstimmen klang dieser Otello! (Und wie schade, dass der Mitschnitt von den Bregenzer Festspielen 1981 nie offiziell veröffentlicht wurde - "Tschinello" Santi dirigierte subtilst, einen Opernabend am Radio, der scheinbar ohne Atemholen verging.)

Er war, natürlich, mein erster Don Carlo, in der famosen Giulini-Studioeinspielung aus London. Und mein erster Alfredo, neben der fiebrigen Traviata von Ileana Cotrubas. Welche Gnade, so in ein Opernleben geschleudert zu werden, von Anfang an mit Erlebnissen, die sich nie mehr abschütteln lassen! Allein wie sich die Phrasen von Sopran und Tenor im "Carlos"-Abschiedsduett von Domingo und Caballé ineinander schrauben ... Er war, kurios, auch mein erster (Platten-)Hüon in Webers "Oberon" (Kubelik am Pult), und zumindest einer der ersten Stolzinge (sein früher Studio-Versuch mit Wagner). Und wer vergisst Domingos Julien in der Charpentier-"Louise", von Georges Prêtre angeheizt? Domingos Turiddu, mit der großen Renata Scotto als Partnerin?

Lohengrin als Opernwunder

Es könnte jetzt endlos so weitergehen - und tatsächlich versorgten uns die Plattenkonzerne (damals bedeutete der Begriff noch etwas!) in den 1980er Jahren und weit darüber hinaus mit einer Domingo-Einspielung nach der anderen. (Titel sind Schall und Rauch.) Zum medial Vermittelten kam nun auch die Live-Begegnung: Leoncavallos "Bajazzo" mit Domingo - ein Opern-Krimi wie danach nie wieder! Sein erster Wiener "Lohengrin" - ein wahr gewordenes Wunder. (Ich hatte eine Staatsopern-Balkonstehplatzkarte, aber so Viele hatten sich Einlass verschafft, dass man am Boden kauern musste. Egal: Dabei sein! Dabei sein auch, wie das Video von Domingos Kalaf in Zeffirellis Breitwand-"Turandot" in einem für alle, die gekommen waren, viel zu kleinen Kammerl bei den Staatsopernfreunden vorgespielt wurde ...)

Domingo war schlanker geworden - und die Stimme spiegelte das. Eine gewisse Stählernheit, gepaart mit viel größerer Verlässlichkeit als früher, prägten nun seine Auftritte. Unvergesslich: Puccinis als Western-Schinken verunglimpftes "Mädchen aus dem goldenen Westen", mit ihm und Mara Zampieri. Wann hätte es je mehr "Musiktheater" gegeben?

"Leicht muss man sein ... "

Paradox, das zu schreiben, wo Domingo seinen 70. Geburtstag mit jeder Menge Engagements für die Zeit danach begeht - aber dennoch: Seine Art, Abschied zu nehmen, imponiert mir zutiefst. Während sich ein Pavarotti bis fast zuletzt durch seine einstigen Glanzrollen quälte, hat sich Domingo im Lauf der 90er Jahre von fast allem von Donizetti, Verdi, Puccini, das davor sein Leben war, gelöst.

Und sich neue Aufgaben gesucht: bei Wagner ("Parsifal", "Walküre"), bei Komponisten, die anzusetzen sich Intendanten nur mit Domingo als "Zugpferd" trauten ("Il Guarany" des Verdi-Zeitgenossen Gomes an der Spitze), bei spanisch-sprachigen Musikern zwischen Oper und Zarzuela, bei Komponisten von heute, die eigens für ihn schrieben (Gian-Carlo Menotti mit "Goya" machte den Anfang). Mit wem sonst hätte sich in Wien Meyerbeers "Prophet" spielen lassen, oder Massenets "Hérodiade"?

Auf dem Weg zum "Singschauspieler"

Es gab Rollen, bei denen Placido Domingo mit den Jahren immer besser wurde, Hoffmann in "Hoffmanns Erzählungen" von Offenbach zum Beispiel. 1993 an der Staatsoper: Domingo hatte immer "seine" Tonfälle, seine Bühnengesten, aber hier war: ein Singschauspieler. Hat es ihn gekränkt, dass lange nach einem "Domingo-Nachfolger" gefahndet wurde? Mittlerweile hat man das aufgegeben: Er selbst hat alle Kandidaten künstlerisch überlebt, nicht als Monument, sondern als einer, der ohne ewig neue Herausforderungen nicht sein kann, egal in welcher Stimmlage.

Aufgaben, die ihn zwingen, nicht locker zu lassen - er wird sie sich immer finden. Sie altersgerecht zu wählen, ist Teil seiner Klugheit, und menschlichen Größe. (Vielleicht auch der Klugheit der Menschen um ihn, Marta Domingo an erster Stelle.) Fast einmalig im Business: Domingo verweigert sich dem Altwerden nicht. Es ist Teil von allem, auch von seinen Auftritten, von seiner Stimme. Und trotzdem: Wenn er "Winterstürme" singt, oder meinetwegen "Rigoletto" - ich werde immer auch den Manrico, den Don José von vor 33 Jahren hören. Der verlässt mich nicht. "Mein" Domingo. Ein zweites Mal passiert mir das nicht.

Service

Vivat Placido Domingo - Eine Gala zu seinen Ehren, Samstag, 22. Jänner 2011, 23:00 Uhr, ORF 2

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Placido Domingo