Erinnerungen durch Gerüche
Sabine Scholl über die Kröpflmühle
"Ich denke, dass Literatur von Begegnungen lebt. Ohne Begegnungen mit interessanten Menschen würde sich das Ich nicht weiterentwickeln, man würde immer am selben Stand bleiben." Sabine Scholl, Schriftstellerin und Lektorin am Institut für Sprachkunst an der Wiener Universität für Angewandte Kunst.
8. April 2017, 21:58
Sabine Scholl, Schriftstellerin
Es gab kein Entkommen
Um interessanten Menschen zu begegnen und sich dabei über Literatur auszutauschen, veranstaltet Scholl in Wien jetzt das Symposium "Die Praxis des Schreibens". Im Literaturhaus treffen einander prominente Schriftsteller wie etwa Friederike Mayröcker, Olga Flor, Josef Haslinger, Doron Rabinovici, Franz Schuh und Josef Winkler, um zu diskutieren, zu lesen, sowie über die Entstehungsbedingungen von Literatur in der Gegenwart zu sprechen.
Sabine Scholl, gebürtige Oberösterreicherin, ortet die Wurzeln ihrer eigenen Beziehung zur Literatur in der Kindheit, die sie in einer ungewöhnlichen Umgebung verbrachte: Das Haus, in dem sie aufwuchs, teilte sie mit Menschen am Abgrund der Gesellschaft. Die Begegnungen mit den Ausgegrenzten sieht sie als entscheidenden Impuls für ihre spätere Laufbahn als Schriftstellerin:
"Ich bin in einem ehemaligen Armenhaus aufgewachsen, wo sich Menschen befunden haben, die außerhalb der Gesellschaft standen, das war für mich einfach mein Alltag, aber ich habe gespürt, dass man schon allein den Namen des Ortes immer mit einer leisen Verachtung sprach: Kröpflmühle!"
Unterkunft für Ausgegrenzte
"Kröpflmühle", das war die Adresse der mittellosen Familien der Gegend. Zusammengesammelt von der zuständigen Gemeinde fanden hier von der Gesellschaft Ausgegrenzte, alleinerziehende Mütter in Geldnot, aber auch Menschen in psychischen Ausnahmezuständen Unterkunft.
"Es ist ein alter Vierkanter, der zwischen Grieskirchen und Bad Schallerbach liegt und dadurch eigenartig situiert ist. Hinten war die Eisenbahn, auf der Seite ein Fluss und zu beiden Seiten jeweils noch eine Straße. Und so kam es mir immer vor, dass das ein geschlossener Raum war, aus dem es kein Entkommen gab."
Sabine Scholls Großvater kaufte das ehemalige Armenhaus "Kröpflmühle"; ein Onkel übernahm das Haus später als Bauernhof. Zusammen mit Tanten, Großeltern und Eltern lebte Sabine Scholl auf dem weiten Areal des Gebäudekomplexes ein Leben zwischen zwei Welten - ein Leben, für das freilich strenge Regeln galten: So war es den Kindern etwa verboten, die Grenze zwischen der eigenen, sogenannten "heilen" Welt und der "verbotenen" Welt zu überschreiten.
Mit dem Tod konfrontiert
Allerdings kam es trotzdem immer wieder zu Begegnungen, die sich tief ins Gedächtnis der Heranwachsenden einbrannten. Denn fallweise fanden Fluchtversuche aus der fatalen Elendssituation in Kröpflmühle statt. Nicht selten endete die Flucht im Tod:
"Eine Familie hatte zwei Söhne, die beide Selbstmord begingen, indem sie sich auf die Schienen legten. Sie hatten diesen Suizid zuvor schon mehrfach versucht, sind aber immer wieder gefunden worden, als sie in der Nacht auf den Schienen lagen: 'Heut' Nacht ist wieder einer auf den Schienen gelegen', hat der Onkel Fritz dann gesagt. Und der Vater der Familie beging ebenfalls Selbstmord, wurde aber gerettet, und wir haben das gesehen. Er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Wir sind zu der Wohnung gelaufen, weil wir gehört haben, dass wieder etwas passiert war, und dieses Bild sehe ich heute noch vor mir: wie der Mann da sitzt, und das Blut tropft runter. Und die Frau steht einfach da und weint in ein Geschirrtuch hinein, ganz still war es. Und es war so heiß, es war ein heißer Tag, man roch dieses Blut und das alte Holz des alten Haus."
Die Quelle der Poesie
Auch Sabine Scholl flüchtete gewissermaßen aus Kröpflmühle. Sie verließ ihr Elternhaus früh, ging nach Wien, später als Lektorin nach Lissabon, Chicago, New York, Nagoya und Berlin. Ihre Kindheitserlebnisse verdrängte sie - bis sie in einem Schreibseminar wieder auftauchten. Thema des Seminars war "Der Ursprung der Poesie".
Eine wichtige Quelle der Poesie, so Scholl, ist die Erfahrung: Bisweilen genügen sinnliche Reize wie etwa Düfte, um tief verborgene Schichten, verdrängte Erfahrungen und Begegnungen an die Oberfläche zu befördern. Im Glücksfall können diese Erfahrungen poetisch umgesetzt werden:
"Der Geruch, einer der ältesten Sinne, ist im Gehirn ganz nahe dem Erinnerungszentrum. Nähert man sich gewissen Gerüchen, so folgen gewisse Stimmungen, und wenn man aufmerksam genug ist, kann man auch Bilder heraufbeschwören."
Der Duft der Rosen
"Fette Rosen" hieß Scholls erster Prosa-Band, in dem sie ihre Kindheitserlebnisse aufarbeitete. Ihre Mutter zog einst Rosen vor dem Haus. Eine Beschäftigung, so Scholl, die wohl ebenfalls eine Art von Flucht aus der tristen Umgebung bedeutete. Aber auch andere Sinneseindrücke ihrer Kindheit wurden für Sabine Scholl lebendig:
"Ein gewisser Grasgeruch in der Abenddämmerung im Frühsommer kann bei mir Geschichten auslösen! Oder der Duft von Rosen, die bei mir sehr stark verbunden sind mit dem Bild des überbordenden, fruchtbaren Aufblühens. Wie diese Blütenblätter der Sonne entgegen knallen, und über allem dieser Duft, der eigentlich schon fast unangenehm ist!"
Bewusstsein wie ein Schwamm
"Tödliche Tulpen" heißt übrigens Sabine Scholls demnächst erscheinender neuer Roman, in dem es - wie so oft in ihrem Oeuvre - um das Thema Ausgrenzung geht. Und auch das folgende Buch ist bereits in Arbeit: Es handelt von der Geschichte des Hauses Kröpflmühle und seiner Bewohner:
"Ich denke, dass das Bewusstsein eines Schriftstellers wie ein Schwamm ist, mit dem alles Mögliche aufgesaugt wird. Die Geschichten der anderen werden inkorporiert, verarbeitet und in einer Weise verdaut, dass wieder andere herauskommen. Diese Verarbeitung hilft, um Menschen und psychische Abläufe besser zu erkennen. Man kann deutlicher sehen, wie eine Gesellschaft funktioniert, warum Außenseiter ausgeschlossen werden. Schon in meiner Dissertation habe ich die vielfältigen Ausschlussmechanismen untersucht, und welche Bedingungen es dafür gibt. Im Grunde habe ich versucht, zu verstehen, was damals los war in diesem Haus!"
Service
sabine Scholl
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