Fotografie
Erich Lessing traf Henri Cartier-Bresson
"Wenn man Henri Bilder gezeigt hat, wollte er zuerst einmal die Kontaktblätter sehen", erinnert sich Erich Lessing. "Denn nur auf einem Kontaktblatt kann man sehen, ob eine Entwicklung zum entscheidenden Moment zu sehen ist - dem Moment, wo es dann stimmt. Das ist heute noch der große Charme seiner Bilder."
29. August 2018, 14:30
Was sich für einen Sekundenbruchteil zeigt, mit sicherer Intuition abzulichten - oder es für immer zu verlieren. Diese grundlegende Herausforderung der Fotografie beschrieb Henri Cartier-Bresson 1952 im Vorwort zu seiner Fotosammlung "Der entscheidende Augenblick". An seine Begegnung mit dem Vater des modernen Fotojournalismus erinnert sich Erich Lessing, der Doyen der österreichischen Fotografie:
"Über Legenden, die man selbst miterlebt hat, spricht man selbstverständlich gerne. Henri Cartier-Bresson ist eigentlich in der damaligen Fotografie - also vor rund 80 Jahren - soziologisch eine einmalige, eine neuartige Persönlichkeit gewesen. Er kommt ja aus einer großbürgerlichen Lyoner Seidenweber-Familie. Und Henri hat dieses Großbürgerliche eigentlich nie abgelegt."
Fotografen-Kooperative "Magnum"
Durch seine Herkunft finanziell abgesichert, konnte Cartier Bresson es sich leisten, als junger Fotograf in vielen Erdteilen unterwegs zu sein. "Auf leisen Sohlen" - mit kleiner, schwarz mattierter Leica ohne Blitz - dokumentierte er Gandhis Begräbnis in Indien und den Beginn der Herrschaft Mao Zedongs in China ebenso wie Alltagsszenen in Pariser Straßen und Bars.
1947 gründete er mit Robert Capa, David Seymour und George Rodgers die Fotografen-Kooperative "Magnum". Erich Lessing trat ihr 1951 bei - und wurde so für Jahrzehnte zum Wegbegleiter Cartier Bressons.
"Das erste Mal, als ich Henri Cartier-Bresson gesehen habe, das war, als ich im Magnum-Büro in Paris so herumgestanden bin. Er ist gekommen, und ich hab mich gefragt, ob er mich überhaupt anerkennen wird als neuer Mitarbeiter im Büro."
Erich Lessing wurde im Kreis der Magnum-Fotografen akzeptiert und konnte in den 1950er Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Dokumentation des politischen Geschehens in Osteuropa leisten.
Hell und Dunkel
Weltberühmt wurden Lessings Aufnahmen der brutalen Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956. Für Magnum abgelichtet hat Lessing aber auch "kleinere, gesellschaftliche Revolutionen" und Kuriositäten des kommunistischen Alltags - wie etwa den "Moskauer Zierfischmarkt" oder die erste Misswahl der Nachkriegsjahre im polnischen Seebad Sopot. Von Henri Cartier-Bresson lernte er dabei, die Komposition von Hell und Dunkel mindestens ebenso wichtig zu nehmen wie den Bildinhalt:
"Seine Dokumente bestachen dadurch, dass sie großartige, ganz klare Kompositionen waren, die nach klaren Maßstäben aufgebaut waren. Er hat sich Bilder angeschaut - nicht so, wie man sie normalerweise anschaut: oben ist oben, unten ist unten. Sondern er hat sie zuerst einmal auf den Kopf gestellt. Denn er hat gesagt: 'Nur wenn ein Bild nicht durch seinen Inhalt, sondern durch seine Form beeindruckt, ist es ein gutes Bild.'"
Der "entscheidende Moment"
Dabei, erinnert sich Erich Lessing, galt der Grundsatz, den im "entscheidenden Moment" des Abdrückens gewählten Bildausschnitt keinesfalls nachträglich zu verändern. Magnum-Bilder durften nie beschnitten werden. Das Komponieren eines Bildes fand für Cartier-Bresson beim Blick durch den Sucher statt und nicht erst bei der Nachbearbeitung. Die Arbeit in der Dunkelkammer, sagt Lessing, zählte dementsprechend nicht zu den großen Leidenschaften Henri Cartier-Bressons:
"Er hat nie eine Dunkelkammer gesehen, das war nicht seine Art. Das hat ihn auch nicht wirklich interessiert. Er hatte in Paris ein kongeniales Laboratorium: Pierre Gassmann. Was der Gassmann aus einem Negativ - egal, wie über- oder unterbelichtet es war - an Tiefen herausgeholt hat, das konnte fast niemand anderer. Heute ist das natürlich völlig vorbei. Heute muss man am Drucker herumdrehen, um die Schwärzen zu kriegen, und man kann auch manipulieren. Diese Zeit ist abgelaufen, wo eigentlich das Laboratorium dem Bild seine Wirkung gegeben hat."
Wie weit kann Fotografie beeinflussen?
Fünf Jahrzehnte lang lebte Erich Lessing in engem beruflichem und persönlichem Kontakt mit den Fotografen der Kooperative Magnum. Ständiges Gesprächsthema im Kreis Cartier-Bressons war die Frage: Wie weit kann Fotografie das Bewusstsein eines Menschen beeinflussen?
Seine Generation, meint Erich Lessing rückblickend, gab sich der Illusion vom Fotografen als "Mitspieler im großen Weltgeschehen" hin. Die Kunst, im "entscheidenden Moment" abzudrücken, so meinte man, könne auch über das Foto hinaus entscheidend sein.
"Er hat immer geglaubt, es könnte doch durch die Fotografie gehen, dass der Einfluss des Bildes irgendwo, irgendwann, an irgendeinem Zeitpunkt doch irgendetwas bewegt. Und ich glaube, es war eine der großen Enttäuschungen seines Lebens, dass das nicht gelungen ist."
"Eine angenehme Erscheinung"
Cartier-Bresson selbst stand nicht gerne im Licht der Öffentlichkeit. Dass es - wie es die Legende will - kaum Fotos des "scheuen Meisterfotografen" gebe, das kann Erich Lessing jedoch nicht bestätigen. Von seiner jahrzehntelangen Freundschaft und Zusammenarbeit mit Henri Cartier-Bresson sind ihm einige Erinnerungsbilder geblieben.
"Er war eigentlich nur erkennbar hinter der Kamera. Kann man sagen, ein typisch französischer Bürger? Nicht sehr groß, mager, durchtrainiert durch viel gehen. Ein gutes, ausdrucksvolles Gesicht. Eine angenehme Erscheinung. Aber eine angenehme Erscheinung, die immer versucht hat, sich hinter der Kamera zu verstecken. Nicht bemerkt zu werden und dadurch das Leben eigentlich zu sehen. Und das ist ihm gelungen."