Die Sehnsucht nach Atlantis und anderen Orten

Insel-Utopien

Utopien sind ideale Gemeinschaften, ideale Staaten. Schon die Etymologie des Begriffs "Utopie" macht deutlich, dass sie nicht real existieren: vom Altgriechischen "Ou-Topos" hergeleitet, bedeutet er so viel wie "Nichtort".

Dennoch beanspruchen Utopien, mehr als bloße Fantasterei zu sein. Ihre Verfasser wollen schließlich eine bessere Gesellschaft entwerfen. Deshalb schildern die meisten utopischen Texte das Leben in der Utopie bis in die kleinsten Details - angefangen bei der Architektur der utopischen Stadt bis hin zu den Nahrungs-, Kleidungs- und Freizeitgewohnheiten oder -vorschriften der Utopier. Und natürlich wird auch der Schauplatz der fiktiven Utopie genannt: häufig ist es eine Insel. Schon der 1516 von Thomas Morus beschriebene Staat "Utopia" befindet sich auf einer solchen:

Die Insel Utopia erstreckt sich in der Mitte - wo sie am breitesten ist, - zweihunderttausend Schritte weit, und nimmt gegen die beiden Enden zu allmählich ab. Die Insel hat vierundfünfzig geräumige und prächtige Städte, in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Gesetzen übereinstimmend. Aus jeder Stadt kommen jährlich drei greise erfahrene Bürger in Amaurotum zusammen, um über die gemeinsamen Angelegenheiten der Insel zu verhandeln. Denn diese Stadt (gleichsam der Nabel des Landes) ist die erste, die Hauptstadt der Insel.

"Eine Insel ist ein Ort, wo die phantasierten Akteure alleine sind und wo es keine störende Einwirkung von außen gibt", so Alfred Pfabigan, Professor für Philosophie an der Universität Wien. Utopien sind geschlossene Systeme. Damit sie funktionieren können, muss der Kontakt nach Außen relativ gering gehalten werden.

Splendid Isolation

Die Insel bietet sich also als Schauplatz an. Denn was eine Insel zur Insel macht, ist ihre Isolation. Welche Bedeutung der Inselhaftigkeit des utopischen Schauplatzes zukommt, macht eine weitere Passage aus Morus’ "Utopia" deutlich:

Wie übrigens berichtet wird, und wie die Gestalt des Landes selbst erkennen läßt, war dieses nicht immer rings von Wasser umgeben. Aber Utopus (...) hat alsbald nach seinem ersten Betreten des Landes und erfolgtem Siege auf der Seite, wo das Land mit dem Festlande zusammenhing, einen Landausstich von fünfzehntausend Schritt Breite herstellen und so das Meer ringsherum fließen lassen.

Als erste Utopie wird häufig Atlantis bezeichnet, das von Platon in zwei seiner Dialoge beschrieben wird. Allerdings handelt es sich bei Atlantis im Grunde genommen um eine Dystopie, also eine negative Utopie. Der Seefahrerstaat Atlantis soll das negative Gegenstück zu Ur-Athen darstellen, an dem Platon seine Theorie eines idealen Staates erläutert.

Denn während Ur-Athen eine Demokratie mit tugendhaften Bewohnern ist, leben die Atlantiden in einer Erbmonarchie und sind moralisch verkommen. Sein berühmtes Schicksal ereilt Atlantis, nachdem sich Ur-Athen auch militärisch überlegen gezeigt hat, schreibt Platon:

In der darauffolgenden Zeit aber gab es gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen; es kam ein schlimmer Tag und eine schlimme Nacht, da die ganze Streitmacht mit einem Male in der Erde versank, und ebenso versank auch die Insel Atlantis ins Meer und verschwand darin.

Zeitalter der Entdeckungen

Die versunkene Insel wurde dennoch zum Synonym für einen Ort, an dem ideale gesellschaftliche Zustände herrschen. Und als solches wurde es immer wieder aufgegriffen - angefangen bei Francis Bacon, der im 17. Jahrhundert eine naturwissenschaftliche Utopie "Nova Atlantis" nannte, bis hin zum "Asterix"-Band "Obelix auf Kreuzfahrt", in dem es die Helden nach Atlantis verschlägt.

Die Reisenden landen irgendwie, etwa durch Schiffbruch, auf einer utopischen Insel. Bei ihrer Rückkehr erzählen sie dann davon. Dieser erzählerische Trick suggeriert Plausibilität: Im Zeitalter der Entdeckungen waren Berichte von Inseln mit fremden Gesellschaftsformen nichts Ungewöhnliches. Indem sie die Utopie-Erzählung in einen Reisebericht einbetten, entziehen sich die Verfasser außerdem politischer Verfolgung: Denn Utopien stellen implizit natürlich immer eine Kritik an den politischen und sozialen Verhältnissen im eigenen Land dar.

Reisen zu Groß und Klein

Auf die Spitze trieb die Praxis des fiktiven, sozialkritischen Reiseberichts Johnathan Swift. In "Gullivers Reisen" wird der titelgebende Held gleich viermal an den Strand ferner Inseln mit eigenartigen Bewohnern gespült. Utopische Züge trägt der vierte Teil des Romans: Dort wird die Gesellschaft der Hauyhnhms geschildert.

Alle vier Jahre im Frühling versammeln sich die dazu erwählten Hauyhnhms zu einem Parlament, in dem die gemeinsamen Landesinteressen zur Beratung kommen. Der Zustand der verschiedenen Bezirke wird untersucht, und es wird in Frage gezogen, ob sie Überfluß an Heu, Hafer, Kühen und Yähus besitzen, oder ob sie daran Mangel leiden; stellt sich letzteres, was jedoch selten vorkommt, heraus, so wird der Mangel durch freiwillige Beiträge sofort wieder ausgeglichen.

Die Hauyhnhms - zivilisierte Pferde - lassen die Vernunft in allen Lebensbereichen walten. Sie kennen weder Krankheit noch Krieg, ja, nicht einmal ein Wort für das Böse haben sie in ihrer Sprache. Probleme machen ihnen gelegentlich bloß die bösartigen Yähus - die sind natürlich nichts anderes als Menschen.

"Gullivers Reisen" erschien 1726, zu einer Zeit, als allmählich die weißen Flecken auf den Landkarten verschwanden. Und sieben Jahre nach einem Roman, der die Insel als Schauplatz bereits völlig neu aufgeladen hatte: Daniel Defoes "Robinson Crusoe".