Kwame Anthony Appiah über Veränderungen der Moral

Eine Frage der Ehre

Wie kommt es dazu, dass eine gesellschaftliche Praxis, die Jahrhunderte lang vorherrschend war, plötzlich verschwindet? Mehr noch: Warum wird etwas, das über lange Zeit hinweg als Zeichen und Inbegriff von Ehre angesehen wurde, mit einem Male etwas, das der persönlichen Ehre diametral entgegensteht? Die Umbrüche des Ehrbegriffs will Kwame Anthony Appiah in seinem Buch nachzeichnen.

Das erste Feld der Ehre, auf das er sich begibt, ist das des Duells. Für Angehörige der gehobenen Stände war diese ritualisierte Form der Auseinandersetzung die letzte Möglichkeit, ihre Ehre zu verteidigen. Appiah untersucht in seinem Buch, wie sich das Duell in England entwickelt hat. Denkwürdig ist für ihn jenes, bei dem der Duke of Wellington, damals Premierminister Englands, am 21. März 1829, den Duke of Winchelsea herausforderte, weil der ihn mit einem offenen Brief beleidigt hatte.

Dieses Duell ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Erstens, weil Duelle in England schon lange verboten waren, was aber den Premierminister nicht davon abhielt, sich trotzdem einem zu stellen. Und zweitens, weil beide Kontrahenten diese Form der Wiederherstellung der Ehre scheinbar nicht mehr sehr ernst nahmen. Wellington schoss daneben, der Duke of Winchelsea ostentativ in die Höhe.

Man kann anhand dieser Episode bereits einige wichtige Faktoren in Bezug auf die Diskussion rund um den Ehrbegriff festmachen. Denn obwohl Duelle längst verboten waren, wurden sie noch immer als legitime Form der Auseinandersetzung angesehen. Einem tief verwurzelten Ehrbegriff ist also mit Gesetzen nur bedingt beizukommen. Warum wurde das Duell aber zu Mitte des 19. Jahrhunderts in England nicht mehr als noble Auseinandersetzung angesehen, sondern als etwas durch und durch Lächerliches? Das hat mit der veränderten sozialen Situation zu tun, so Appiah:

Wenn Rituale antiquiert wirken

Durch den Aufstieg des Verwaltungsstaates mit seiner Ausrichtung auf geordnete Verhältnisse und einer bürgerlichen Händlerschicht, die auf Gesetzestreue eingeschworen war, wirkte das Verhalten der Adeligen mit einem Male seltsam antiquiert. Dazu kam, dass die Massenpresse - Mitte des 19. Jahrhunderts - Duelle mehr und mehr als lächerliches Spektakel abtat.

"Wie es zu moralischen Revolutionen kommt" heißt das Buch im Untertitel, dieser führt aber ein wenig in die Irre. Denn in diesem Text geht es nicht um Revolutionen, wie wir sie zurzeit in Ländern wie Tunesien, Ägypten oder Libyen erleben, sondern um die Veränderung von Moralvorstellungen. Und diese passieren auch nicht plötzlich, sondern evolutionär, wie Appiah selbstausführt.

Sklavenhandel und Füßebinden

Es sind drei große historische Felder, die Appiah untersucht. Das Duell in England, der atlantische Sklavenhandel und die Praxis des Füßebindens in China. Das Füßebinden sollte die Keuschheit der Frauen aus der Han-Elite absichern. Durch extremes Einbinden der Füße und dem Brechen der Knochen sollte dieses alte Schönheits- und Ehrideal aufrecht erhalten werden.

Anspruch auf Respekt

Appiah analysiert klug die sozialen Veränderungen, die zur Beendigung der jeweiligen Praxis führten. Aber Appiahs Ziel besteht nicht nur darin, historische Umbrüche zu illustrieren, er will eine aktuelle Theorie der Ehre aufstellen. Diese fällt aber leider ein wenig banal aus. So lautet die zentrale These: "Ehre bedeutet Anspruch auf Respekt".

Wer diesen Respekt bekommt und wer nicht, das deutet jede Kultur zu jeder Zeit anders. Für Appiah ist die Ehre kein vormoderner Überrest, nichts, worüber man sich lustig machen sollte, sondern integraler Bestandteil einer funktionierenden Gesellschaft.

Service

Kwame Anthony Appiah, "Eine Frage der Ehre. Wie es zu moralischen Revolutionen kommt", aus dem Englischen übersetzt von Michael Bischoff, C. H. Beck Verlag

C. H. Beck - Eine Frage der Ehre