Megacity Istanbul droht Verkehrskollaps

Erdogan will Kanal neben Bosporus bauen

Der türkische Ministerpräsident Tayyip Recep Erdogan hat seine Landsleute mit einem gigantischen Baurojekt überrascht, das er selbst als "verrückte Idee" bezeichnet hat: Er will nebem dem Bosporus einen zweiten Schiffskanal zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer bauen. Neben der Metropole Istanbul soll eine neue Großstadt entstehen.

Mittagsjournal, 30.04.2011

Christian Schüller

Kanal würde Istanbul zu einer Insel machen

Fast drei Jahre lang hat der türkische Regierungschef seine Landsleute auf die Folter gespannt. Er habe eine verrückte Idee, ließ Recep Tayyip Erdogan verlauten, doch der Zeitpunkt dafür sei noch nicht reif. Jetzt, wenige Wochen vor den Wahlen, ist der siegessichere Regierungschef damit herausgerückt: Er will einen Kanal graben, der parallel zum Bosporus verläuft und die Stadt Istanbul zu einer Insel macht.

Natur eine Schnippchen schlagen

Mit diesem Projekt werde Istanbul in Zukunft eine Stadt sein, durch die zwei Meere fließen, hat Erdoğan live im Fernsehen verkündet. Der Applaus war ihm sicher. In dem Saal, in dem er sein Geheimnis lüftete, saßen mehr als tausend seiner Parteigänger. Und immerhin hat schon Sultan Süleyman der Prächtige vor einem halben Jahrtausend davon geträumt, die Natur zu übertrumpfen und neben dem Bosporus mit seinen berüchtigten Strömungen und Wirbeln eine zweite, sichere Verbindung zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer zu bauen.

Wartezeiten für Tanker verkürzen

Seither hat sich der Güterverkehr durch den Bosporus vervielfacht. Jeden Tag zwängen sich etwa hundertfünfzig Schiffe, davon 30 Tanker durch die Meerenge, die Europa und Asien verbindet. Viele dieser Schiffe müssen tagelang warten, bis sie die Erlaubnis zur Durchfahrt bekommen. Sie alle will der türkische Regierungschef in Zukunft auf die neue, breitere Seestraße umleiten, die er "Kanal Istanbul" nennt. Den Bosporus will in ein Naturparadies verwandeln.

Zwei Millionen Arbeitsplätze

"Ab nun werde die alte Meerenge wieder so wie in alten Tagen als Naturwunder gelten und sogar eine Möglichkeit für Wassersport bieten.", kündigt der Regierungschef an. Der neue Kanal werde zwei Millionen Arbeitsplätze schaffen, denn an seinen Ufern würden neue Stadtteile mit Büros, Geschäften und Wohnungen entstehen.

Istanbul: Noch mehr Verkehrsprobleme

Für viele Istanbuler klingt diese Vision aber wie ein Albtraum. Die neuen Stadtteile im Westen würden die Megastadt mit ihren 15 Millionen Einwohnern noch weiter aufblähen und damit noch schlimmere Verkehrsprobleme erzeugen, befürchten sie.

Freunde und Verwandte Erdogans werden profitieren

Außerdem wäre der dichte Schiffsverkehr durch den neuen Kanal nicht weniger gefährlich als der durch den Bosporus. Umweltexperten warnen davor, dass die neue künstliche Verbindung den Salzgehalt des Schwarzen Meeres ungünstig verändern könnte. Dass von dem Monsterprojekt vor allem regierungsnahe Baufirmen und Bodenspekulanten profitieren werden, ist kaum von der Hand zu weisen. Einige der größten Istanbuler Immobilien-Firmen haben Erdogan bereits öffentlich zu seiner großartigen Idee gratuliert.

Erdogan spielt Nationalismuskarte

Etwa zehn Milliarden Dollar soll der 45 Kilometer lange Kanal kosten. Wie das finanziert werden soll, darüber schweigt der Regierungschef sich noch aus. Geschickt macht er aus seinem Bauvorhaben eine Frage des Nationalstolzes.

Der Istanbul-Kanal werde eine größere Leistung sein, als der Kanal von Korinth oder als der Suezkanal, ruft er in die Fernsehkameras. Und weil Nationalstolz immer einen Adressaten braucht, spekulieren türkische Zeitungen darüber, ob das Ganze nicht auch eine Botschaft an die Europäer enthält: Denn für einen selbst gebauten Kanal gelte dann wohl nicht mehr jener Vertrag aus den Dreißigerjahren, der allen Ländern die freie und ungehinderte Durchfahrt zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer garantiert.