Blutfehde und archaische Traditionen
Filmdrama "Alive"
Um Blutfehde geht es in dem Drama "Alive", mit dem der albanische Film ein deutliches Lebenszeichen setzt. Regisseur Artan Minarolli erzählt im Interview über archaische Traditionen und das Filmschaffen in seiner Heimat.
8. April 2017, 21:58
Kulturjournal, 29.06.2011
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Ö1 Kulturjournal: Artan Minarolli, in Ihrem Film geht es um Blutrache. Woher kam die Idee, einen Film über dieses Thema zu drehen?
Artan Minarolli: Ich wollte das wirkliche Leben im heutigen Albanien zeigen und diese Blutrache existiert tatsächlich noch. Zentral war mir aber die Frage, wie jemand friedlich weiterleben kann, wenn ihm plötzlich jederzeit alles passieren kann.
Sie beschreiben in Ihrem Film das Funktionieren und die Mechanismen dieses Systems der Blutrache sehr genau. Wie haben Sie für dieses Thema recherchiert?
In der Hauptstadt Tirana ist das System der Blutrache verschwunden, aber in einigen ländlichen Gebieten, vor allem in den Bergen, lebt es bis heute fort. Heutzutage ist die Gesellschaft in Bewegung. Die Menschen vom Land verlassen die Dörfer und treffen mit ihren Traditionen auf das moderne Großstadtleben, und so kommt es zu einer Vermischung der Kulturen. Trotzdem bleiben gewisse Traditionen wie die Blutrache erhalten. Ja, sie bleiben nicht nur erhalten, sie haben sogar große Macht auf das Leben vieler Menschen.
Sie erwähnen in Ihrem Film den Kanun. Das scheint ein uralter Gesetzeskodex zu sein. Worum handelt es sich dabei genau?
In den alten Zeiten war dieser Kodex in abgelegenen Gebieten grundlegend, damit das Zusammenleben zwischen den Menschen funktionierte. Was sich heute vielleicht absurd und teilweise lächerlich anhört, hat aber immer noch seine Bedeutung in einigen isolierten Regionen. Es geht da um gewisse Stereotype, die einfach tief im Unbewussten dieser Menschen verankert sind. Anfangs war dieser Gesetzeskodex sehr komplex und die Blutrache noch gar nicht Bestandteil davon. Es ging da eher um Gastfreundschaft und andere Bereiche, die das Miteinander der Menschen regelten. So wurden etwa die Gerichtsbarkeiten genau abgesteckt. Heute schützen aber viele Menschen den Kanun vor, um ihre kriminellen Handlungen zu rechtfertigen und sich so aus der Verantwortung ziehen zu können.
Sie haben erwähnt, dass sich die Gesellschaft in Albanien im Umbruch befindet. Wie sieht es da derzeit in der politischen Landschaft aus? Vor knapp zwei Jahren gab es ja Parlamentswahlen. Die demokratische Partei konnte damals die Mehrheit erringen, die Sozialisten sprachen damals von Wahlbetrug. Die Fronten scheinen aber auch weiterhin verhärtet. So gab es erst im Jänner Demonstrationen mit drei Toten. Bei den Kommunalwahlen im Mai gingen jetzt abermals die Demokraten als Gewinner hervor. Wie ist die Situation derzeit?
Die Emotionen gehen hoch. Schon seit einiger Zeit und ein Ende ist nicht abzusehen. Gar nicht so sehr in der Gesellschaft, aber zwischen den Parteien selbst herrscht eine sehr aggressive Stimmung. Die sind derzeit weit von Verhandlungen oder einem Einvernehmen entfernt. Für mich sind diese Aggressionen und dieser Konflikt ein Erbe unserer Vergangenheit: Der fast 50-jährigen brutalen Diktatur und der damit einhergehenden Isolation, die bis zum Sturz des kommunistischen Regimes 1990 andauerte. Wir sind diese Kräfte aus unserer Vergangenheit, die uns trennen und auseinandertreiben, noch nicht los geworden.
Sind die beiden großen Parteien, die Demokraten und Sozialisten als Demokraten und Sozialisten im westlichen Sinne zu verstehen? Was ist ihr jeweiliges Programm?
Ich glaube nicht, dass sich die Konzepte der beiden Parteien voneinander unterscheiden. Beide waren in den gut zwanzig Jahren seit dem Sturz der Diktatur schon an der Macht und ihre Ideen zur Entwicklung des Landes waren mehr oder weniger ident. Deshalb glaube ich auch nicht, dass ein Regierungswechsel irgendwelche einschneidenden Veränderungen nach sich ziehen würde. Grundsätzlich halte ich die Entwicklung des Landes aber für gut geplant.
Als Filmemacher sind Sie von Förderungen abhängig. Gibt es überhaupt ein staatliches Budget für den Film?
Es gibt das Albanische Filmzentrum als einzige staatliche Institution, die das gesamte für den Film vorgesehene Budget verwaltet. Es wurde 1997 gegründet, als auch das neue Gesetz zur Filmförderung beschlossen wurde. Und dieses Gesetz schützt die Unabhängigkeit des Filmzentrums. Das Gremium wird direkt von den verschiedenen Gesellschaften von Filmemachern gewählt und ist unabhängig in seiner Entscheidungsfindung. Filmprojekte werden also weder von politischer oder religiöser oder irgendeiner anderen Seite beeinflusst.
Es gab und gibt also keine Zensur, egal, ob Sozialisten oder Demokraten an der Macht waren?
Bis heute gab es, egal von welcher Regierung, keinerlei Einflussnahme und wir tun unser Bestes, damit das auch so bleibt. Sobald eine der beiden Parteien Einfluss nehmen würde, würde das Filmzentrum zusammenbrechen. Bis heute können die Filmemacher ihre Ideen völlig frei umsetzen.