Introvertiert und extrovertiert

Still

Worum es der ehemaligen Wirtschaftanwältin Susan Cain in ihrem Buch mit dem Titel "Still" geht, macht der Untertitel deutlich. Um die "Bedeutung der Introvertieren in einer lauten Welt". Vor allem in den USA gelten extrovertierte Menschen als dynamisch, während Introvertierte als Langweiler abgestempelt werden. Dieses Vorurteil möchte die Autorin ausräumen.

Als Kind war Susan Cain so schüchtern, dass sie sich in ihrem Zimmer versteckte, wenn es an der Tür läutete. Der erste Schultag in einer neuen Klasse war eine wahre Qual.

Ganz ablegen konnte sie ihre Schüchternheit auch als Erwachsene nicht. Wenn sie vor Publikum reden muss, kribbelt es in der Magengegend. Susan Cain ist also noch immer ein wenig schüchtern. Und außerdem ist sie introvertiert. Das eine sei jedoch mit dem anderen nicht zu verwechseln, erklärt die Autorin: Wer schüchtern ist, hat Angst, von anderen negativ beurteilt zu werden. Introviertiertheit hingegen beschreibt, woher man seine Energie bezieht. Was man als stimulierend oder vielleicht als zu stimulierend empfindet.

Ihre Abende verbringt Susan Cain am liebsten mit ihrem Mann und ihren Kindern. Intro- bzw. Extrovertiertheit kommt in graduellen Schattierungen. Hin und wieder geht Susan Cain schon gerne aus. Doch nach zwei Stunden reicht es ihr. Extrovertierte hingegen empfinden zwei Stunden unter Menschen als belebend und kommen dann erst so richtig in Fahrt.

Männer der Tat gefragt

"Laut jüngsten Statistiken sind 50 Prozent der Amerikaner introvertiert", sagt Cain. "Und wenn das auf die USA zutrifft, ist das auch anderswo der Fall. Denn die USA gelten als die extrovertierste Nation der Welt. Das ist gut zu wissen, denn es bedeutet: Jeder zweite, mit dem man es zu tun hat, ist also introvertiert. Viele Introvertierte haben sich eine andere Art der Selbstpräsentation angeeignet. Das heißt: Sie geben vor, anders zu sein, als sie sind. Ihre psychischen Bedürfnisse werden daher nie befriedigt; sie können nie ihre Batterien wirklich aufladen. Das ist sowohl für sie selbst, als auch für Arbeitgeber und Lebenspartner von Nachteil."

Der Grund, warum gerade US-Amerikaner als extrovertiert gelten, liege an der Geschichte, meint die Autorin. Amerikaner hatten sich einst die Unabhängigkeit hart erkämpft, und das lerne jedes Kind schon in der Schule:

"Amerikaner betrachteten die Briten damals als Aristokraten mit einem ausgeprägten Hang zur Lektüre und somit also untätige Leute. Amerikaner sahen sich selbst als Menschen, die eine neue Nation auf die Beine stellen mussten. Gefragt war also nicht der Mann der Gedanken, sondern der sprichwörtliche Mann der Tat. Diese Gestalt wurde in der US-Gesellschaft verehrt. Diese Eigenschaften bildeten die Basis für das Land. Anfang des 20. Jahrhunderts kam noch etwas hinzu: die Explosion von Big Business. Amerikaner hatten bis dahin in kleinen Gemeinden, wo jeder jeden kannte, gelebt. Nun drängten sie in die Stadt und in die Großunternehmen. Zum ersten Mal stellte sich für den Einzelnen die Frage: Wie präsentiere ich mich in einer Welt, die mich nicht kennt? Wie verkaufe ich mich am besten?"

Diese Entwicklung führte zu einem Boom von Selbsthilfeliteratur, allerdings mit einem völlig neuen Tenor. Im 19. Jahrhundert wurde man ein besserer Mensch, indem man innere Tugenden kultivierte. Im 20. Jahrhundert musste man lernen, sich charismatisch und im besten Licht zu präsentieren. Dieses Prinzip, so die Autorin, werde einem schon in der Schule und später auf Eliteuniversitäten wie der Harvard Business School eingeimpft.

Wo Aktion alles ist und Nachdenken nichts

Wer es weder in der Schule noch auf dem College lernt, für den gibt es eine reiche Auswahl an Selbsthilfe-Gurus. Der prominenteste: Tony Robbins, der auch von Politikern wie etwa Bill Clinton konsultiert wurde. Susan Cain nahm zwecks Recherche an einem seiner Seminare teil.

"Eines hat mich gerettet: Ich bin eine Introvertierte, die gerne tanzt", erzählt Cain. "Tony Robbins' Seminare sind im Prinzip wie ein gigantisches Rock-Konzert. Dieser Aspekt hat mir gefallen. Doch abgesehen davon habe ich mich sehr fremd gefühlt. Ich war in einer Welt, wo Aktion alles und Nachdenken nichts war. Mir war sehr unbehaglich zumute, denn ich lebe fürs Nachdenken. In einem Umfeld, in dem das missachtet und ignoriert wird, fühle ich mich nicht wohl."

Extrovertiertheit gilt so sehr als Ideal, dass die Eigenschaft jedem, der ein positives Image hat, automatisch zugeschrieben wird. Sogar Jesus. Zwar wird in der Bibel immer wieder beschrieben, dass Jesus die Einsamkeit gesucht hatte, religiöse US-Schüler meinen dennoch, Jesus war extrovertiert.

Introvertierte Chefs besser fürs Team

Studien haben gezeigt, dass Menschen, die als erste das Wort ergreifen und sich in Szene setzen, als Personen mit Führungsqualitäten empfunden werden. Allein auf Grund ihres Verhaltens wird ihnen Kompetenz zugetraut. Die mögen sie haben, - oder auch nicht. Daher werden Extrovertierte in Unternehmen rascher befördert. Doch neue Studien rehabilitieren die Introvertieren, meint Susan Cain:

"Wenn einer Gruppe von pro-aktiven, motivierten Leuten eine introvertierte Führungskraft vorsteht, wird diese Gruppe viel mehr leisten, als unter einer extrovertierten. Der Grund: Introvertierte haben weniger Bedürfnis, zu dominieren; ihre eigene Vision umzusetzen. Es entspricht ihrer Persönlichkeit, andere sich entfalten, neue Ideen entwickeln und umsetzen zu lassen. Das fällt Extrovertierten schwer. Wenn jedoch eine Gruppe von Leuten unmotiviert ist, dann erzielen sie mit einem extrovertierten Führer mehr, denn dieser weiß, wie man andere inspiriert und anfeuert."

Alleine üben bringt bessere Ergebnisse

Unter welchen Umständen geben Leute ihr Bestes? Was macht sie zu Erfindern oder Virtuosen? Wie wird man der beste in seinem Fach? Mit diesen Fragen beschäftigte sich der schwedische Psychologe Anders Ericsson. "Er fand: Es braucht so genanntes 'gezieltes Üben'", so Cain. "Das erfordert so hohe Konzentration, dass man das nur alleine machen kann. An der Hochschule für Musik in Berlin teilten die Lehrer die Schüler für ihn in Gruppen ein: in die außerordentlich guten Geigenspieler und in die weniger vielversprechenden. Die Schüler mussten alle ein Arbeitsbuch führen. Ericsson fand heraus: Die besten übten mehr Zeit allein. Die anderen übten gleich viele Stunden, aber eben in der Gruppe und nicht allein."

Die Zeiten werden für die Introvertieren allmählich besser. In den Medien gibt es Anzeichen dafür, dass die sogenannten Nerds – also die Langweiler, Sonderlinge und verstreberten Einzelgänger - rehabilitiert werden. Denn etliche - von Apples Steve Wozniak und Steve Jobs bis zu Facebooks Mark Zuckerberg - brachten es in der Computer- und Internetwelt zu Ruhm und Reichtum. Susan Cain hofft, dass die Introvertierten auch ohne ein paar Milliarden am Konto künftig mehr geschätzt werden.

service

Susan Cain, "Still. Die Bedeutung der Introvertieren in einer lauten Welt", aus dem Amerikanischen übersetzt von Franchita Mirella Cattani und Margarethe Randow-Tesch, Riemann Verlag

Riemann Verlag - Susan Cain
The Power of Introverts