Timothy Snyders "Bloodlands"

Erinnerung an 14 Millionen Tote

Eines der wichtigsten Werke der Zeitgeschichte sagen die einen, eine Relativierung des Holocaust meinen die anderen. Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder hat in dem umfangreichen Werk "Bloodlands" den Holocaust mit dem Stalinterror zusammengeführt, die Mordexzesse von NS- und Sowjetregime miteinander verbunden.

Timothy Snyder, Jahrgang 1969 ist Professor an der Yale University und Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen. "Bloodlands" hat nach seinem Erscheinen im Vorjahr in den USA eine wichtige Diskussion eröffnet. Übersetzungen in 20 Sprachen sind derzeit in Arbeit, die deutsche ist soeben erschienen.

Kultur aktuell, 04.08.2011

Hitlers und Stalins Massenmorde im Visier

"Dies ist eine Geschichte politischer Massenmorde", erklärt Timothy Snyder am Beginn seines Opus Magnum. Die Zahlen: Rund 14 Millionen Menschen wurden in den Jahren von 1933 bis 1945 durch Massenmordkampagnen getötet, ausgehungert, erschossen, und vergast. Der Schauplatz: das westliche Russland, das Baltikum, Weißrussland, die Ukraine und der Großteil Polens - die "Bloodlands", wie Timothy Snyder diese Region nennt. Das Besondere seiner Betrachtung: Er nimmt die gesamte Politik der Massenmorde ins Visier - die von Hitler und die von Stalin.

"Wenn wir das ganze verstehen, sehen wir: Dort wo der Holocaust stattgefunden hat, hat man mit Hunger mehr Menschen getötet als mit Gas oder durch Erschießung", so der Autor.

Entrüstung und Applaus für Snyder

Viel Applaus aber auch Entrüstung erntete Timothy Snyder mit den "Bloodlands" in den USA. Kritiker meinen, dass die Einzigartigkeit des Holocaust infrage gestellt werde, wenn Stalins Massenmorde mit denen von Hitler verglichen werden, ja die Vernichtung der Juden werde gar "heruntergespielt".

Snyder weist den Vorwurf entschieden zurück: "Man muss vergleichen. In der Mehrheit haben die Opfer Erfahrung mit beiden Systemen gehabt. Aber vergleichen heißt nicht gleich setzen. Ich versuche den Holocaust in der europäischen Geschichte zu verankern, und das ist nicht immer populär. Aber die Geschichte ist nicht dazu da, es uns bequem zu machen, die Geschichte ist dazu da, damit wir sie verstehen."

Eskalation der Mordexzesse

Anhand von Dokumenten aus ost- und mitteleuropäischen Archiven, vor allem aus der Ukraine und aus Polen macht Timothy Snyder eine Eskalation von Mordexzessen und Vernichtungsstrategien deutlich und belegt, dass die Todeszahlen dort am höchsten sind, wo beide Diktaturen gewütet haben.

"Was für mich das wichtigste ist: Im Mittelpunkt des Buches stehen die Opfer. Die jüdischen, die polnischen, die ukrainischen, die russischen, die baltischen Opfer. 14 Millionen Menschen sind getötet worden. Wenn man diese Tatsache nicht versteht, kann man überhaupt die europäische Geschichte dieser Epoche und unsere Epoche auch nicht verstehen", betont Snyder.

Gemeinsame Sicht der Geschichte

Die gemeinsame Erinnerung an 14 Millionen Tote, eine gemeinsame Sicht der europäischen Geschichte, die Nazismus und Stalinismus, faschistische und kommunistische Regime als gemeinsames Erbe anerkennt und eine Debatte über deren Verbrechen könnte nicht zuletzt für ein Europa von heute identitätsstiftend sein: "Wenn man überhaupt eine europäische Identität will, muss man in der Lage sein, die Geschichte von anderen Nationen zu verstehen. In Europa gibt es das Problem, dass es eine Perspektive von Deutschland von Polen, der Ukraine oder Frankreich gibt, aber es gibt keine europäische Geschichte des Krieges und des Totalitarismus. Ohne gemeinsame Geschichte kann man von einer europäischen Identität nicht sprechen."

Service

Timothy Snyder, "Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin", aus dem Englischen von Martin Richter, Verlag C.H.Beck