Ein neurobiologischer Mutmacher
Was wir sind und was wir sein könnten
Immer häufiger hören wir von Burnout, Demenz und Depression, immer mehr Lebensratgeber erobern den Buchhandel. Doch was ist los mit unseren Gehirnen, dass wir dem Alltag scheinbar nicht mehr gewachsen sind? Gerald Hüther kritisiert in seinem neuen Buch die Entwicklung zu einer Leistungsgesellschaft, die vornehmlich aus Ressourcen sammelnden Individuen bestehe.
8. April 2017, 21:58
Der Titel des neuen Werks von Gerald Hüther mutet eher philosophisch als neurobiologisch an. Dabei ist Hüther Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und seine wissenschaftliche Laufbahn kann sich sehen lassen. Doch auch als Autor hat er sich bereits einen Namen gemacht. In seinem aktuellen Buch "Was wir sind und was wir sein könnten" beschreibt er, was in unserem Leben falsch läuft und wie es stattdessen besser gehen könnte.
Veränderte Lebensbedingungen
Als Kinder waren wir noch begeisterungsfähig und offen, doch diese Eigenschaften verlieren die meisten Erwachsenen, laut Gerald Hüther, mit der Zeit. Stattdessen seien diese oft unzufrieden oder schmorten ewig im eigenen Saft. Hüther erzählt von Globalisierung und Industrialisierung und den daraus resultierenden veränderten Lebensbedingungen. Diese Bedingungen und unser Umfeld sind es, laut Hüther, die die Entwicklung unseres Gehirns und damit unsere Geisteshaltung beeinflussen.
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Denn die Erkenntnis, dass das menschliche Gehirn ein sich erfahrungs- und nutzungsabhängiges entwickelndes Organ ist, bedeutet empirisch nicht weniger, als dass die soziokulturelle Entwicklungsumwelt, in die ein Mensch hineinwächst, die neuronale Architektur seines Gehirns ganz entscheidend bestimmt.
Immer wieder verweist der Autor dabei auf die kindliche Entwicklung und das Streben nach Anpassung an die Gesellschaft. Was uns begeistert oder ängstigt, prägt uns und unsere Art zu denken. Im Laufe der Entwicklung gingen uns dabei Eigenschaften wie Offenheit oder Begeisterungsfähigkeit verloren. Wir funktionierten nur noch, um den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft gerecht zu werden.
Die Kraft der Gefühle
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So geht das Zeitalter der Rationalität mit einer bemerkenswerten Erkenntnis zu Ende: Denken können wir, was wir wollen. Sogar Handeln können wir – zumindest eine Zeitlang – nach unserem eigenen Gutdünken. Aber um glücklich und zufrieden, mutig und zuversichtlich leben zu können, müssen wir in der Lage sein, etwas zu empfinden. Wir müssen also die Intelligenz und die Kraft unserer Gefühle wieder erkennen und nutzen lernen.
Hüthers Plädoyer für Gefühle und gegen rein rationales Denken wirkt zunächst naiv, doch er spricht eine zentrale Entwicklung unserer Gesellschaft an. Doch jeder noch so rational denkende Mensch könne seine Geisteshaltung verändern: Gehirnstrukturen ließen sich immer wieder erneuern, man müsse nur den Mut und die Kraft aufbringen, sich neu begeistern zu lassen.
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Glücklich sind Menschen immer dann, wenn sie Gelegenheit bekommen, ihre beiden Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Nähe einerseits und nach Wachstum, Autonomie und Freiheit andererseits stillen zu können. Wenn sie also in der Gemeinschaft mit anderen über sich hinaus wachsen können. Wer das erleben darf, ist glücklich.
Das Miteinander nimmt dabei für den Autor eine zentrale Rolle ein. Vertrauen sei die Basis für Selbstvertrauen, Entfaltung und gesunde Entwicklung. Nur so könnten junge Erwachsene veraltete Denkmuster durchbrechen und Neues in die Welt tragen.
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Wer sich also weiterentwickeln will, müsste in Beziehungen denken und in Beziehungsfähigkeit investieren. Das ist das Geheimnis der Kunst des miteinander und aneinander Wachsens. Erreichen lässt sich dieses Kunststück aber nur durch die Wertschätzung des jeweils anderen als einzigartige Persönlichkeit, als Quelle von Wissen und Erfahrungen, sowie durch die Einführung einer Lern- und Fehlerkultur im gelebten Miteinander, einer Kultur, in der Fehler als Lernchancen begriffen werden und in der Menschen dazu ermutigt werden, die in ihren jeweiligen Lebenswelten gemachten Erfahrungen auszutauschen und auf diese Weise gemeinsam über sich hinauszuwachsen.
Eigene Freiheit zu wenig genützt
Besonders die Begegnung und der Austausch mit Menschen verschiedener soziokultureller Herkunft würden helfen, den eigenen Horizont zu erweitern und dazu ermutigen, neue Wege einzuschlagen. Die Menschen würden dabei ihre eigene Freiheit nicht ausnutzen, aus Bequemlichkeit oder Angst vor dem Neuen. Doch nur in seinem eigenen Sud zu garen, das mache auf Dauer unzufrieden.
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Zu viele Menschen leiden an Stress, weil sie über zu geringe Kompetenzen zur Stressbewältigung verfügen. Hierzu zählt die Fähigkeit zur Selbstregulation und zur Selbstreflexion, gut ausgebildete Kontrollüberzeugungen und Selbstwirksamkeitskonzepte, Frustrationstoleranz und Flexibilität. Diese Menschen erleben sich allzu oft als ohnmächtig, als ausgeliefert und fremdbestimmt. Dieser Mangel an eigenen Kompetenzen zur Stressbewältigung wird noch enorm verstärkt durch einen hohen Erwartungsdruck, durch eigene unrealistische Vorstellungen und durch einen Mangel an kohärenten, sinnstiftenden und haltbietenden Orientierungen.
Durch neue Erfahrungen und eine neue Wahrnehmung des eigenen Körpers könnte die Stressbewältigungsfähigkeit auch im Erwachsenenalter noch geschult werden.
Gerald Hüther schreibt verständlich und spricht mit seinem Buch aktuelle Probleme unserer Gesellschaft treffend an. Sprachlich wirkt das zu Beginn umständlich und zu mahnend. Doch sein Stil gewinnt an Klarheit, Präzision kommt dabei vor allem an den wissenschaftlichen Stellen zum Ausdruck. Wer das Buch liest, hat vielleicht zunächst den Eindruck, einen rein philosophischen Ratgeber vor sich zu haben, aber dann bekommt er neue Denkanstöße und Erklärungen neurobiologischer Phänomene, ohne sich durch zahlreiche langatmige Kapitel quälen zu müssen.
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Gerald Hüther, "Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher", S. Fischer Verlag
S. Fischer - Was wir sind und was wir sein könnten