Blind Love und die Antike
"Le week-end"-Reprisen im August
Beim Gang durch welches große Kunsthistorische Museum dieser Welt auch immer, wir treffen ständig auf sie: Aphrodite. Im August besucht "le week-end" manch griechisches Vorbild: zweimal Orpheus auf seinem Gang in die Unterwelt Eurydikes' wegen, auch Herkules, aber zuerst flanieren wir durch eine Galerie von musikalischen Porträts der Göttin der Liebe, von Josquin Desprez bis Miles Davis.
8. April 2017, 21:58
Selbstverständlich ist auch ihr verschmitzter Sohn Eros immer wieder einmal zu sehen. Mit Pfeil und Bogen. Und das ist gefährlich, denn es geht augenblicklich um Blind Love.
Auch zwei ältere Herren wissen das, der eine 68 Jahre alt, der andere 52: Duke Ellington und Frank Sinatra. Aufgenommen 1967, mit einer schönen Anmerkung voller Alliterationen auf der Plattenhülle versehen: Beide hätten viel erlebt und wüssten von "war, women, worry and wonder". Amors Pfeil hat getroffen, Aphrodite lächelt, Dukes Band bleibt cool und Frank ist verzaubert; selten klang seine Stimme so abgrundtief profund: "Sunny, I love you".
Platons "Symposion"
Das vielleicht elaborierteste Traktat über die Liebe stammt schon aus Aphrodites Zeiten, nämlich das berühmte "Symposion" von Platon, geschrieben zirka 380 vor unserer Zeitrechnung in Athen. Redner folgt auf Redner, von Aristophanes über Alkibiades zu Sokrates treten kluge Geister auf und referieren über Wirkung und Sinnhaftigkeit der Kräfte Aphrodites und vor allem des Eros.
Wir steigen in dieses Symposion ein und lassen Pausanias auftreten. Es gebe zumindest zwei Erscheinungsformen der Aphrodite und folglich auch des Eros, führt er wortreich aus: eine gewöhnliche, also irdisch-körperliche, und eine himmlische. Mit einer Hommage an die himmlische Liebe lässt Leonard Bernstein seine "Serenade nach Platons Symposium" für Violine und Orchester beginnen. Die solistische Violine - in der Uraufführungsfassung ätherisch schön gespielt von Isaac Stern - skizziert eine utopische Zartheit, anschließend fugatoartig umspielt und umworben, bis sich Pausanias dann ordentlich in den Wirbel der körperlichen Liebe hineinredet.
Wankelmütiger Eros
Folgt man der Mythologie, dann ist die schöne Aphrodite tendenziell eher für die beständige Liebe verantwortlich, während ihr etwas wankelmütiger Sohn Eros, römisch Amor, immer wieder für Schwierigkeiten sorgt. Ohne diesen frechen Pubertierenden, der mit seinen Pfeilen hantiert und damit die blinde Leidenschaft auslöst, wäre das Leben um einige entscheidende Verwicklungen unkomplizierter - oder ärmer.
Drei Minuten braucht Wolfgang Amadeus Mozart in einem Lied für eine dramatische Mini-Szene, die genau davon erzählt, wie schnell es gehen kann, wenn Amors goldener Pfeil ganz unerwartet trifft und im Wald plötzlich alles anders ist: "Dans un Bois solitaire". Es beginnt ganz harmlos und idyllisch. Eine Frau geht ruhig und zufrieden durch einen einsamen Wald spazieren. Im Schatten schläft ein Kind, es ist der - wie es heißt - fürchterliche Amor. Und - besonders gemein - er hat die Gesichtszüge jenes Untreuen, den sie geschworen hat, zu vergessen.
Aber weil der tückische Amor eben auch so schön ist, entkommt ihr ein Lächeln, der Liebesgott wacht auf. Amor spannt den Bogen und trifft sie mitten ins Herz. "Weil Du mich aufgeweckt hast, bist du zu neuem Sehnen und Schmachten verdammt."
Venus von Milo
Nach so viel Aufregung begeben wir uns wieder in die angenehm klimatisierten und dezent abgedunkelten Räume unseres klingenden Kunstmuseums. Da steht sie, perfekt geformt und elegant, mit leichtem Hüftschwung: die Venus von Milo. Aus dem Marmor der Kykladeninsel Paros gemeißelt. Dass der berühmten Skulptur die Arme fehlen, gibt uns vielleicht erst eine direktere Vorstellung der Zeitabläufe. Vor zirka 2.100 Jahren hat ein unbekannter Künstler diesem steinernen Frauenkörper seine weichen, fließenden Formen gegeben.
Diese Venus von Milo versehen wir mit einem akustischen Spiegel. Reflektiert vom jungen Gerry Mulligan, gespielt von einem Nonett rund um Bandleader Miles Davis, für die Nachwelt konserviert auf dem richtungsweisenden Album "Birth of the Cool". Venus di Milo ist eine mindestens ebenso wohl-geformte Cooljazz-Nummer, pure Schönheit, die durch Distanz und Zurückgenommenheit strahlt.
Giacinto Scelsi
Auf unserem Museumsrundgang auf der Suche nach Aphrodite und Eros waren wir in der Abteilung "Cool et Noir". Wir gehen einen Raum weiter, in die Abteilung "Sonnig und warm". Auch hier gibt es eine Venus, zu Hause in Rom, eher ätherische Schönheit denn verführerische Frau, porträtiert mit einem Pinsel aus 18 Instrumenten und einer solistischen Geige, ein Porträt der Göttin der Liebe als geglückter Versuch musikalischer Zärtlichkeit aus der Mitte der 1960er Jahre, komponiert von Giacinto Scelsi, ein Klanggedicht über die Schönheit der Liebe.
Da die vermutete Schönheit über Jahrhunderte die Fantasie anregte, finden wir selbstverständlich auch in unserer Museumsabteilung zum 15. Jahrhundert ein Bild von Venus vulgo Aphrodite. Damals allerdings war man weniger an delikater Klangmalerei zum Thema Schönheit interessiert, als an intrikater Raffinesse im Melodisch-Rhythmischen. Je hintergründiger die Polyphonie und Komplexität, desto heller strahlt Aphrodites Schönheit.
Josquin Desprez
Ein von vielen Komponisten aufgegriffenes Thema mit dem Titel "O Venus bant" gibt es auch in der eineinhalb-Minuten-Instrumentalversion des großen Meisters des 15. Jahrhunderts. Von bedingungsloser Liebe wäre im Text die Rede, hätte Josquin Desprez nicht ein kurzes Instrumentalstück daraus gemacht: "O Venus bant", ein Dauerbrenner der Musik des 15. und 16. Jahrhunderts.
Auch Niederlagen musste Aphrodite einstecken. Affären hatte sie ja nicht wenige, mit dem Götterkollegen Ares gleich mehrere Kinder, obwohl sie mit Götterschmied Hephaistos verheiratet war. Irgendwann reichte es diesem und er baute - als kunstfertigster Schmied aller Zeiten kann man das - ein feines eisernes Netz, das über Aphrodite und Ares fiel, als sie wieder einmal zusammen im Bett lagen. Dann holte er alle Götterkollegen, um ihnen die Gefangenen vorzuführen und zu beweisen, dass Aphrodite ihn betrog.
Homerisches Gelächter
Er hatte nur mit zwei Dingen nicht gerechnet: Erstens verliebte sich ein Gutteil jener männlichen Götter, die nicht ohnehin schon ein Techtelmechtel mit Aphrodite gehabt hatten, augenblicklich in die nackte Schönheit. Zweitens brachen die Götter ob Hephaistos' ebenso verzweifelter wie sinnloser Bemühungen in schallendes Gelächter aus - das sprichwörtliche homerische Gelächter.
Für nicht enden wollendes Gelächter kann es in der Musik verschiedene Gründe geben, auch nächtliche Einsamkeit. "Are You Lonsome Tonight" stand auf dem Programm, als Elvis Presley in den vielleicht berühmtesten dokumentierten Lachkrampf der Musikgeschichte verfiel. Aber Elvis kämpft sich trotz homerischen Gelächters tapfer bis ans Ende der einsamen Nacht.
Venus-Fliegenfalle
So ein homerisches Gelächter lässt sich eine Klassefrau wie Aphrodite aber nicht so einfach gefallen. Die verhöhnte Venus schlägt zurück, jetzt in Gestalt einer fleischfressenden Pflanze, einer Venus-Fliegenfalle. Wie es einem Käfer geht, der sich in die farbigen, aufreizend glänzenden Blüten dieser pflanzlichen Venusfalle verliebt, das hat Stevie Wonder musikalisch erforscht. Ein Popsong der etwas anderen Art - als kleine, extravagante Szene: "Venus Fly Trap and the Bug" von und mit Stevie Wonder. Diese Liebe konnte kein Happy End haben.
Janáceks unmögliche Liebe
Auch bei Leos Janácek ist die Sache kompliziert. Ihn trafen sowohl Amors goldene, als auch die erzernen Pfeile. Janácek war 63 und unglücklich verheiratet, aber man hatte sich arrangiert, denn einen offenen Bruch mit gesellschaftlichen Normen wollten weder er noch seine Frau riskieren. Es folgte Amors zweiter Schuss: Der Komponist lernte die 38 Jahre jüngere, ebenfalls verheiratete Kamilla kennen. Diese Liebe musste platonisch bleiben, suchte jedoch einen Ausdruck und fand ihn in 800 Briefen, die er in seinen letzten elf Lebensjahren an Kamilla schrieb.
Kurz vor seinem Tod verwandelte er diese große, aber unmögliche Liebe noch in Musik, in ein Streichquartett: "Hinter jedem Ton stehst Du, lebendig, heftig, liebevoll (...) Diese Aufschreie der Freude, aber welch seltsame Sache - auch Aufschreie des Schreckens nach dem Wiegenlied, Jubel, heißes Bekenntnis der Liebe, wehklagend, unbezähmbare Sehnsucht, unerbittlicher Entschluss, mich mit der Welt um Dich zu schlagen (...) Ach, das ist ein Werk, als ob man es aus lebendigem Fleisch herausschnitte..." Von der Direktheit der Liebe, Verzweiflung ob der Liebe und wie es ist, wenn Amor mit den Pfeilen spielt, erzählt das 2. Streichquartett von Janácek mit dem Titel "Intime Briefe".
Wenn Amors Pfeil trifft
Einer, der das auch erfahren musste, ist Cherubino in Mozarts "Figaro". Ihn hat es erwischt und er wendet sich an zwei Frauen, von denen er denkt, dass sie Erfahrung damit haben müssten. "Ihr, die ihr wisst, was die Liebe ist", hebt er vorsichtig und völlig überfordert an, "ich kann's nicht verstehen. Ich spüre pures Verlangen, und es ist so schön wie es zugleich ein Martyrium ist. Ich friere, gleich darauf brennt die Seele, und schon friere ich wieder." So schlimm kann es sein, wenn Amors Pfeil getroffen hat.
Salzburger Festspiele 2006. Nikolaus Harnoncout dirigiert, den Cherubino singt Christine Schäfer, und es ist einer dieser Jahrhundertmomente. Schäfer verleiht dem Cherubino nicht Wut, Verzweiflung oder Aufbegehren, nein, sie verleiht ihm die zarteste Ratlosigkeit der Welt, ein Staunen über den Schmerz und die Schönheit der Liebe.
Isoldes Liebestod
Wir wünschen dem pubertierenden Cherubin, dass sein Liebesleben später einmal nicht so endet wie das der Isolde. Da waren auch Aphrodite und Amor bzw. ihre keltischen oder germanischen Fachkolleginnen schuld, aber irgendwann läuft die Geschichte aus dem Ruder. Isolde stirbt einen Liebestod, und zwar - wie es sich auf der Opernbühne gehört - neben und über der Leiche ihres Tristan.
Richard Wagner sah die Geschichte ein wenig anders. Er sprach nicht von einem "Liebestod", sondern von "Isoldes Verklärung", sah das gemeinsame Sterben zweier Verliebter sozusagen als Happy End, denn immerhin seien Isolde und Tristan ja im Tod vereint. Das ist natürlich Ansichtssache, aber die sehnsuchtsdurchströmte Musik zur Szene funktioniert unabhängig davon und auch ganz anders. Auch ohne Gesang. Sogar ohne Orchester. Alfred Brendel spielt mit hingebungsvoller Zartheit Isoldes Liebestod in der Transkription von Franz Liszt. Was bleibt, ist die Liebe. Und die Liebe zum Klang.
Leonard Cohen differenziert
Eros wusste sehr wohl, wen er mit seinen Pfeilen traf und damit unweigerlich ins Glück oder auch Unglück der Liebe trieb. Erst spätere Jahrhunderte konnten sich solch Direktheit nicht mehr vorstellen und entwickelten das Bild des Amor mit verbunden Augen. Die blinde Liebe. Leonard Cohen sieht das differenziert, Liebe ist ja nicht deckungsgleich mit Sehnsucht, geschweige denn Leidenschaft. "The Old are kind, the Young are hot, Love may be blind, Desire is not."