Gesellschaftskritisches von DBC Pierre

Das Buch Gabriel

An lebensmüden Existenzen und potenziellen Selbstmördern ist die Weltliteratur nicht gerade arm. Doch DBC Pierres Romanheld Gabriel Brockwell ist ein besonderes Schattengewächs der Melancholie. Obwohl er erst Mitte Zwanzig ist, hat er bereits einiges an Alkohol- und Drogenexzessen hinter sich - und er wird dieser zerstörerischen Existenzform auch während des Romanverlaufs des Öfteren huldigen.

Sicher, die Lebensmüden unter uns haben immer Argumente bei der Hand, weswegen diese Welt die schlechteste aller möglichen Welten ist, doch Gabriel ist ein genauer und gewiefter Beobachter des Spätkapitalismus. Wenn sein Gehirn nicht gerade im Drogennebel irrlichtet, dann ist er zu Erkenntnissen fähig, die ihn als kritischen Alltagsphilosophen des beginnenden 21. Jahrhunderts ausweisen. Gabriels Existenz hängt an einen dünnen Faden, der jedoch recht beschwingt zwischen den Begriffen "Limbus" und "Nimbus" hin und her pendelt.

In der Vorhölle

In der katholischen Theologie ist der Limbus eine Art Vorhölle, in der unerlöste Seelen ihr Dasein fristen, etwa Kinder, die vor der Taufe gestorben sind. Der Limbus ist allerdings keine Doktrin, sondern theologische Spekulation, die in der heutigen Amtskirche auf wenig Gegenliebe stößt. Doch die Limbus-Theorie ist sozusagen der romantische Überbau für Gabriels Lebensüberdruss.

Die Vorstellung, der Schlaf sei dem Tod am Ähnlichsten, entstammt der platonischen Philosophie, ist aber auch durchaus Teil der romantischen Lebensschau. Der düstere Romantiker Gabriel Brockwell will schlafen, ewig schlafen, weil die Welt des 21. Jahrhunderts für ihn einen "Limbus", also die Vorhölle darstellt. Allein, Gabriel kommt nicht dazu, sich zu töten, und je weiter der Roman voranschreitet, desto öfter tritt der Gegenbegriff zu "Limbus" auf den Plan: "Nimbus", das Besondere, ja, Heilige, das an einer Sache oder Person sichtbar wird.

Fugu und Drogen vertragen sich nicht

DBC Pierres Roman "Das Buch Gabriel" beginnt wie ein rasantes Roadmovie. Gabriel flieht aus einer britischen Entzugsanstalt, in die ihn sein Vater gesteckt hat, er kauft sich ein Flugticket und ab geht's erst einmal nach Tokio. Dort arbeitet nämlich sein einziger Freund Smuts als begabter Jungkoch. Er schuftet in einem Nobelrestaurant für Superreiche. Die Spezialität des Hauses ist "Fugu" - das ist die Zubereitung eines Kugelfisches, dessen Innereien hoch giftig sind. Die Kunst des Kochs liegt nun darin, ohne lebensbedrohende Vergiftung gerade noch tolerierbare Giftdosen mit dem Fisch zu verabreichen, die neben einem prickelnden Taubheitsgefühl im Mund beim Gast auch Rauschzustände auslösen können.

Jungkoch Smuts ist noch in der Ausbildung und als ihn nun Gabriel im Lokal besucht, kommt es wie es kommen muss. Smuts und Gabriel haben zu viel Kokain genommen, ein feister japanischer Mafioso verlangt in seiner Trunkenheit nach mehr und mehr Fugu. Am Schluss liegt nicht der todessüchtige Gabriel reglos am Boden, sondern der Japaner. Für Smuts sieht es nicht gut aus. Die Polizei kommt und steckt den Koch ins Gefängnis - die Anklage lautet: fahrlässige Tötung oder gar Mord. Da ist guter Rat teuer. Nur einer kann helfen: der Förderer von Smuts. Es ist Didier Le Basque. Der Franzose macht nichts anderes, als für die Superreichen dieser Welt Mega-Events in abgedrehten Locations zu organisieren. Gabriel muss ihn finden - und ab geht's nach Berlin.

Wo ein Kaffee ein Kaffee ist

Berlin - das ist für Gabriel ein Ort mit Nimbus, nicht unbedingt heilig, dafür weniger eilig, was den Turbokapitalismus betrifft.

Gabriel kennt Berlin von seiner Kindheit her. Sein Vater hatte knapp nach der Wiedervereinigung im Osten einen Club gegründet. Der lief eine Zeit lang gut, doch als es bergab ging, packte der Vater seinen Sohn und seine sieben Sachen und kehrte nach London zurück. Seinem deutschen Partner, Gerd Specht, hinterließ er allerdings Schulden. Diesen Gerd Specht sucht nun Gabriel und findet ihn auf dem riesigen Flughafengelände Berlin-Tempelhof. Specht ist der heruntergekommene Besitzer einer Würstelbude. Er ist allerdings auch ein Philanthrop und nimmt Gabriel wie einen verlorenen Sohn auf. Und Specht zeigt Gabriel die verborgenen Schätze von Tempelhof - die kilometerlangen Hallen und Tunnels, die von den Nazis errichtet worden sind.

Überdrüber-Milliardäre

Da hat Gabriel eine geniale Idee: Wenn der Franzose Didier le Basque hier für die Superreichen ein Megaevent organisieren könnte, dann würde er vielleicht auch Gabriels Freund Smuts aus den Händen der Tokioer Justiz retten. Das Projekt gelingt tatsächlich. Und wie da DBC Pierre das Verhalten der Milliardäre dieser Welt beschreibt, lässt nichts zu wünschen übrig: Es sind gefräßige, drogensüchtige, sexbesessene Tiere.

Die Speisen, die sie während des Tempelhof-Events zu sich nehmen, zeugen von Perversion: Muschel-Soufflé "mit dem Horn eines Spitzmaulnashorns", den Hals einer "Bastardschildkröte in Parmesan-Brioche-Kruste", "Hirn vom Goldenen Löwenäffchen", "Tatze vom Großen Panda mit Wachtelbohnen" und last but least "Karamellisiertes Milchtigerjunges vom Königstiger". - Dagegen nimmt sich das "Fugu"-Gericht vom Kugelfisch als schlichte japanische Hausmannskost aus! Und selbst dem Maître de Plaisir dieses Events, dem Franzosen Didier le Basque, sind diese Gerichte zu abgedreht. Er bevorzugt einen bestimmten Berliner Würstelstand und genießt dort eine dicke Currywurst.

Viel Witz und Ironie

Doch was soll's! DBC Pierres Roman geht gut aus. Gabriels Freund Smuts wird gerettet und Gabriel selbst hat keine Lust mehr auf Selbstmord - er hat sich verliebt in ein smartes Mädchen aus dem Osten. In dem jungen Gabriel Brockwell ist eine Lebensmaxime gereift - nichts wirklich Spektakuläres, dafür aber lebbar.

Natürlich spielt DBC Pierres Roman "Das Buch Gabriel" auf das Motiv des Erzengels an. Doch der Romanheld Gabriel kommt vom Limbus, von der Vorhölle her. Er verkündet nicht die Botschaft Gottes, sondern die höllische Moral des spätkapitalistischen Marktes. Der Autor beschreibt dies allerdings nicht mit belehrendem Zeigefinger, sondern mittels Witz und Ironie. Das spürt man auch sehr deutlich in der Übersetzung von Kirsten Riesselmann.

Erst in Berlin wandelt sich Gabriels Limbus zum Nimbus, nicht weil an diesem Ort das Heilige stets präsent ist, sondern weil hier Menschen mit einer gewissen Menschlichkeit denken und agieren - und auf lifestylige Megaevents pfeifen. Soll heißen: Diese Art von Gesellschaftskritik, wie sie DBC Pierre in seinem neuen Roman vorführt - mit Witz, Übertreibung, aber auch mit philosophischem Gespür -, ergibt lustvolle Lektüre. Man amüsiert sich, staunt über so manche Absurdität des Lebens und denkt nach - über Gabriels Welt, die auch die unsre ist.

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DBC Pierre, "Das Buch Gabriel", aus dem Englischen übersetzt von Kirsten Riesselmann, Eichborn Verlag

Eichborn - Das Buch Gabriel