Ein Land der Autoren und Autorinnen

Lebendige Literaturszene

Mit rund 30 Autorinnen und Autoren und 180 deutschsprachigen Neuerscheinungen präsentiert sich Island nächste Woche als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Im deutschsprachigen Raum hat Island schon seit einigen Jahren einen fixen Platz in der Literatur-Landkarte - mit Autoren wie Steinunn Sigurdardottir und Kristof Magnusson, die einen ganz eigenen Ton angeschlagen haben.

Kulturjournal, 03.10.2011

Halldor Laxness atmet, und zwar in einer Soundinstallation des isländischen Künstlers Finnbogi Pétursson im Living-
Art-Museum in Reykjavik. Er hat aus einer Lesung des vor 13 Jahren verstorbenen Literaturnobelpreisträgers schlicht und einfach die Worte herausgeschnitten.

Ob mit oder ohne Worte - Halldor Laxness ist nach wie vor das literarische Aushängeschild des Landes, weiß der Autor und Übersetzer Kristof Magnusson. Diese Mischung aus Heimatverbundenheit und Weltoffenheit habe Laxness zu einem Heimatdichter mit Weltruhm gemacht, meint er.

Landschaft mit Mythen

Heimatverbunden und weltoffen - so sehen sich die Isländer gern. Und die Literatur der isländischen Autorinnen und Autoren hat - bei aller thematischen Vielfalt - etwas Gemeinsames, meint Kristof Magnusson: Sie ist bevölkert von Sonderlingen, von Eigenbrötlern und Unabhängigkeitsfanatikern. Und noch etwas: Island, die Landschaft, die Naturgewalten und die Mythen, spielen die Hauptrollen in der Literatur - auch jener Autoren, die ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben, wie Steinunn Sigurdardottir, eine der bekanntesten isländischen Autorinnen.

Steinunn Sigurdardottir hat in Irland gelebt, lange Zeit in Paris, in den USA und in Japan. Derzeit wohnt sie in Berlin. Mit Romanen wie "Herzort" und "Gletschertheater" hat sie auch hierzulande reüssiert. "Island ist nach wie vor meine wichtigste Quelle", sagt sie, die Sprache und die Landschaft. "Das Licht ist meine unendliche Inspiration, auch Reykjavik."

1.500 Neuerscheinungen pro Jahr

Reykjavik ist nicht nur für Steinunn Sigurdardottir eine Inspirationsquelle. "City of Literature" - dieser Titel wurde der Stadt vor kurzem von der UNESCO verliehen. Es ist die fünfte Stadt, die sich so nennen darf - übrigens die erste nicht-englischsprachige. Und das hat gute Gründe: Statistisch gesehen kauft jeder der rund 320.000 Isländer pro Jahr acht Bücher; das ist weltweit Spitze. Und die 1.500 Neuerscheinungen, die jährlich von etwa 40 Verlagen produziert werden, ist auch eine stolze Zahl.

Lyrik im Supermarkt

Vom Kollaps des Finanzsystems 2008 hat die Buchbranche auch noch profitiert, berichtet Kristjan Halldorsson von der Buchhandlung Mal og Menning. Er meint, die Isländer wollten anscheinend vor der Wirklichkeit flüchten. Der Realität entfliehen die Isländer nicht nur mithilfe der berühmten Islandkrimis, sondern mitunter auch mit Lyrik.

In einer Billig-Supermarktkette habe ein junger Lyriker einen Gedichtband veröffentlicht mit dem Logo der Kette, wie sie die Produkte tragen, erzählt Kristof Magnusson, "eine lyrische Reise durch unsere alltägliche Konsumwelt". Gedichte neben Schokoriegeln und Kaugummi. Die nächste Auflage des Lyrikbandes gab es übrigens mit 33 Prozent mehr Inhalt.

"Wunderbare Leser"

Woher rührt die isländische Literaturbegeisterung? Es habe sich nie wirklich städtisches Leben entwickelt, das heißt: "Seit dem Mittelalter haben die Isländer nichts anderes als die Literatur, die die ganze Vergangenheit transportiert", meint Magnusson. In Island gäbe es keine Kunst- und Musiktradition, so Magnusson weiter.

Im Kontrast eben dazu: nicht nur die Literatur, sondern auch eine sehr lebendige Literaturszene. "Was wir haben, sind wunderbare Leser", schwärmt Steinunn Sigurdardottir. In Island werde sehr viel über Literatur geredet, "und davon leben wir Autoren". Im Gegensatz dazu sei der Markt so klein, dass man schlecht verdiene, auch mit einem Bestseller.

Damit die Autoren überleben, gibt es eine großzügige staatliche Literaturförderung, berichtet Kristján B. Jónasson vom isländischen Verlegerverband. Autoren würden anhand ihrer Leistungen bewertet und bekommen bis zu drei Jahre sozusagen ein Gehalt. Bis zu 80 Autoren und Autorinnen werden jährlich gefördert. Diese Stipendien entsprächen dem Mindestgehalt eines Universitätslektors.

Das ist nicht der einzige Unterschied zur deutschsprachigen Literaturszene betont Kristof Magnusson. Isländische Autoren gingen nicht von theoretischen Überlegungen oder Sprachkonzepten aus, meint er. Sie "müssen Geschichten erzählen über ihr eigenes Land, damit andere Leute überhaupt wahrnehmen, dass es dieses Land gibt."

Beschreibung statt Analyse

Die Welt durch Literatur begreifen, beschreiben und hinterfragen. Dafür wählen aber viele isländische Autoren einen distanzierten Standpunkt. "Die alten Birken vor meinem Arbeitszimmerfenster in Island sind mir die liebste Aussicht auf die Welt, aber sie versperren mir mit der Zeit die Sicht", schreibt Steinunn Sigurdardottir. Und weiter: "Die Isländer behaupten hartnäckig, in Island sei alles am besten". Mit dieser Einstellung sei man aufgewachsen, so Sigurdardottir, viele Menschen hätten sogar vor Ärzten Angst, die nicht Isländer sind.

Und: es fehlt an Diskussionskultur. Geschehnisse würden nicht analysiert, sondern nur als Anekdoten beschrieben, sagt Sigurdardottir. Es gäbe zu wenige sachliche Debatten. Immerhin: Steinunn Sigurdardottir wurde wegen ihrer kritischen Wortmeldungen nicht das staatliche Stipendium entzogen, so wie einst ihrem Kollegen Halldor Laxness, nachdem er mit seinem Roman "Atomstation" anno 1948 eine große Polemik um die Militärstützpunkte in Island und ein Lehrstück in Sachen Krise und Kritik geliefert hatte. Sieben Jahre später wurde er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

Textfassung: Ruth Halle