Diskretion ist oberstes Gebot

So entscheidet die Jury

Einer, der bereits vor der Bekanntgabe des Literaturnobelpreises wusste, wer die Auszeichnung bekommen würde, ist Kjell Espmark. Der 81-jährige Literaturhistoriker ist Mitglied des fünfköpfigen Nobelkomitees in Stockholm. Im Interview verrät er, dass die Entscheidung für Elfriede Jelinek auch intern zunächst umstritten war.

Mittagsjournal, 06.10.2011

Akademie in der Kritik

Die Schwedische Akademie stand in den letzten Jahren immer wieder in der Kritik: Die Nobelpreise für Dario Fo, Harold Pinter oder den Franzosen Jean-Marie Gustave Le Clézio waren nicht nach jedermanns Geschmack.

Aber im Großen und Ganzen, meint Kjell Espmark, könnten sich die Entscheidungen der jüngsten Zeit durchaus sehen lassen. Oder würde irgendjemand bestreiten, so der freundliche Schwede, dass Mario Vargas Llosa, Herta Müller und Imre Kertész großartige Preisträger seien, Preisträger, die weltweit auf Akzeptanz gestoßen seien?

"Ich bin ganz zufrieden", so Espmark. "Aber es ist auch so, dass ich einen Schriftsteller, den ich am liebsten habe, nicht durchbringen kann, aber das ist eine natürliche Sache."

Konservativer Start

Welcher Schriftsteller das ist, will Espmark nicht verraten. Diskretion ist schließlich oberstes Gebot in seinen Kreisen.

Espmark, ein eleganter Herr von Anfang achtzig, trägt einen eierschalenfarbenen Anzug. Sein Blick ist wach und neugierig, seine Literaturbegeisterung unüberseh- und unüberhörbar. Die Philosophie des Nobelpreis-Komitees habe sich mehrfach geändert, seit Alfred Nobel den Preis 1896 gestiftet hat, erläutert Espmark. In den ersten Jahren war die Jury noch durchdrungen vom Geist eines konservativen Idealismus. Man zeichnete bevorzugt zweitrangige Autoren von erstrangiger ethischer Gesinnung aus - gleich im ersten Jahr, 1900, etwa den Franzosen Sully Prudhomme.

"Heute ist die Weltanschauung nichts", betont Espmark. "Es ist die künstlerische Darstellung, die wichtig ist."

Qualität als Hauptfaktor

Nach einer populistischen Phase in den 1930er Jahren - als man Bestsellerautoren wie Sinclair Lewis und Pearl S. Buck auszeichnete - habe die Nobelpreis-Jury ihr Hauptaugenmerk auf literarische Qualitäten zu richten begonnen, erklärt Espmark.

"Dann kamen die Bahnbrecher Hermann Hesse, André Gide, T.S. Eliot und William Faulkner. Und ich glaube, dass die Wahl Faulkners die beste aller Zeiten war."

Wie Faulkner zum Weltstar wurde

Denn William Faulkner war, als er 1949 den Nobelpreis bekam, nicht einmal in den USA besonders bekannt. Erst die Stockholmer Entscheidung machte den "Südstaaten-Balzac" zum Weltstar - und zu einem der einflussreichsten Autoren des 20. Jahrhunderts, ohne den der "Nouveau Roman" ebenso wenig denkbar gewesen wäre wie der "Magische Realismus" in Lateinamerika.

Dass die Stockholmer Entscheidungen eurozentristischen Erwägungen gehorchten, wie zuweilen behauptet wird, bestreitet Espmark vehement. Ebenso wenig sei es zutreffend, dass John Updike und Philipp Roth den Preis nicht bekommen hätten, weil es von Seiten feministischer Jurymitglieder massive Einwände gegen die beiden Herren gäbe, vor allem ihrer ausgeprägten Sexualfixiertheit wegen.

"Nein, das habe ich noch nie gehört, nein, nein, nein. Solche Dinge diskutiert man nicht. Das wäre in der Nähe von Politik. Die Intregrität der Akademie ist sehr wichtig, man kann da niemals politische Argumente zum Maßstab machen", sagt Espmark.

Einwände gegen Jelinek

Auch dass Elfriede Jelinek 2004 den Nobelpreis bekam, habe nichts mit Politik zu tun gehabt, behauptet Kjell Espmark. Im Komitee hat es allerdings literarische Einwände gegen die österreichische Autorin gegeben: "Jelinek war umstritten, ja, ja."

Auch er selbst habe zu den Skeptikern gezählt, bekennt Espmark. Jelineks dramatische Texte seien ihm zu wenig theatralisch, zu wenig bühnentauglich vorgekommen: "Und dann fuhr ich mit einem anderen Mitglied der Jury nach Zürich, um Christoph Marthalers Inszenierung von 'In den Alpen' zu sehen. Ich muss sagen: Das war eine der größten Theatererfahrungen in meinem Leben. Und da verstand ich: Was Jelinek macht, sind Partituren, aus denen geniale Regisseure etwas Geniales machen können."

Schwedens weiter Horizont

Espmark hält es für einen Vorteil, dass der Literaturnobelpreis von einer schwedischen Jury vergeben wird: "In Frankreich oder England wäre der Horizont nicht so weit. Zum Beispiel in den Vereinigten Staaten - und wohl auch in Großbritannien - machen Übersetzungen nur 2,8 Prozent aller Buch-Neuerscheinungen aus. In einem kleinen Land wie Schweden muss man die Fenster offen haben. Bei uns sind 50 Prozent der literarischen Neuerscheinungen Übersetzungen."

Und das weitet den Horizont. Zu den Prinzipien der Nobelpreis-Jury gehört es, so Espmark, dass sie Jahr für Jahr überraschen möchte. Und womit gedenken uns die Herrschaften in Stockholm 2012 zu überraschen? "Kann ich nicht sagen. Das bleibt in meinem Kopf."

Service

Nobel prize