Lesestoff der Edo-Zeit
Japans Regenzeit-Geschichten
Wenn der Regen fällt, leise und unaufhörlich, verschwimmen die Welten ineinander. Dann treiben sich allerlei seltsame Wesen, die weder Mensch noch Tier sind, herum. Dann scheint es auch möglich, sich in anderer, fremder Gestalt zu zeigen.
8. April 2017, 21:58
Wann haben die Menschen eigentlich angefangen, gruselige Geschichten zu erzählen? Geschichten, in denen Götter mit Göttern streiten, in denen es grausame Monster zu besiegen galt, in denen Tote in die Welt der Lebenden zurückkehren oder Lebende das Totenreich erkunden, heißen Sagen oder Märchen oder Mythen. Sie sollen die Zuhörer unterhalten, belehren und ihnen ein wenig Gänsehaut bescheren.
Die Zeit des Regenmondes
Im Japan des 18. Jahrhunderts lebte Ueda Akinari, ein Schriftsteller und Multitalent, der mit zweien seiner Bücher eine ganze Mode heraufbeschwor: die "Regenzeit-Geschichten". Ein seltsamer Name, der mit zwei Tatsachen in Verbindung steht. Einerseits schrieb Ueda Akinari beide Bücher während der japanischen Regenzeit im Spätfrühling, "am Fenster sitzend", wie er es im Vorwort des ersten Buches formuliert, "in den Nächten, da es zu regnen aufgehört hat und der Mond hinter Wolken nur verschwommen schimmert", andrerseits ist die Zeit des Regenmondes, Mitte Juni bis Mitte Juli, nach japanischem Volksglauben die Lieblingszeit japanischer Gespenster.
Ueda Akinari hat allerdings die Geister und Gespenster seiner Geschichten nicht erfunden. Sie waren einfach da. Jeder glaubte daran, dass sich die Lebenden die Welt mit Geistern zu teilen hatten. Man trug zaubrische Amulette zur Abwehr feindlich gesinnter Geister, bannte sie mit bestimmten Gesten oder sprach Gebete, man sprengte den freundlichen Geistern kleine Tropfen dessen entgegen, von dem man selbst gerade trinken wollte, oder streute einige Krümel Kuchen. Man kannte die Geister natürlich auch aus dem buddhistisch gestimmten Nô-Theater sowie aus den beliebten chinesischen Gespenstergeschichten. Das war die Basis, auf der Ueda Akinari seine Geschichten erfand: die Geschichte der eifersüchtigen Ehefrau, die als Gespenst ihre Nachfolgerin tötet, oder die Geschichte eines Ritters, der mit dem Geist des Geldes eine Diskussion über Werte führt, oder die Geschichte des Zen-Meisters, der den Wahnsinn eines Mönches heilt.
Beliebte Yomihon
Ueda Akinari war selbst auch Arzt, ein Meister der chinesischen Medizin. Er war weit über die Grenzen Osakas bekannt, weil er davon ausging, dass viele physische Krankheiten von seelischen Problemen verursacht würden. Vielleicht beruhte diese Erkenntnis auf eigener Beobachtung, denn er selbst war ein schwer kranker Mensch, litt auf Grund einer Hirnhautentzündung in jungen Jahren an Epilepsie und hatte nach einer lebensgefährlichen Pockenerkrankung als Kind verkrüppelte Finger.
Auch in materieller Hinsicht hatte er Pech. Sein Adoptivvater hatte ihm ein gut gehendes Geschäft hinterlassen, das er verantwortungsvoll und erfolgreich weiterführte – bis das Geschäft bis auf die Grundfeste abbrannte. Danach fühlte er sich frei für die eine seiner Leidenschaften, die er schon zuvor nebenbei betrieben hatte: die Schriftstellerei. Er schrieb Gedichte, satirische Romane, erotische Geschichten, das gehobene Bürgertum seiner Zeit, das vor allem "Yomihon" liebte: Bücher, die ein wenig moralisierend aus der chinesischen und japanischen Geschichte erzählten - damals höchst beliebt - und die vor allem durch ihre geschliffene Sprache bestachen. Ja doch, es gab auch einige wenige Zeichnungen in diesen Yomihon.
Vorbild für viele Autoren
An seinen Werken orientierten sich nicht nur Autoren seiner Zeit wie zum Beispiel Santo Kyoden, der vor allem mit dem Yomihon "Merkwürdige Geschichte der Rache am Asaka-Teich" bekannt wurde – dem Ehemann, der von seiner Frau und ihrem Liebhaber ermordet wird und als Geist wiederkehrt, der seine Mörder mit Hilfe eines Moskitonetzes zu strafen pflegte.
Oder auch Kyokutey Bakin, dessen voluminöser Roman (106 Bände!) "Chronik der acht Hunde" bis heute die Menschen bezaubert. Auch in manchem Werk moderner Autoren merkt man den Einfluss von Ueda Akinari, etwa bei Ryunosuke Akutagawa oder auch bei manchem Roman von Haruki Murakami.
service
Brigitte Heinrich (Hg.), "Der Große Fang. Geschichten von Fisch und Mensch", Unionsverlag
Ueda Akinari, "Unter dem Regenmond. Phantastische Geschichten", dtv/Klett-Cotta
Ueda Akinari, "Erzählungen beim Frühlingsregen", Insel