Zwischen "moralischer Instanz" und "Staatsdichterin"
Autorin Christa Wolf gestorben
Die Schriftstellerin Christa Wolf ist tot. Sie starb am Donnerstag im Alter von 82 Jahren in Berlin. Das teilte der Suhrkamp Verlag mit. Als DDR-Autorin galt Wolf als eine der wichtigsten deutschen Autorinnen der Nachkriegszeit.
8. April 2017, 21:58
Gelebte Doppeldeutigkeit
Wie kaum eine andere Schriftstellerin verkörperte Christa Wolf als einstige DDR-Autorin von Weltruf den Konflikt zwischen Geist und Macht. Dafür hat die nach Anna Seghers wohl bekannteste und produktivste Schriftstellerin des "anderen Deutschland" lange Jahre mit beiden "Ehrentiteln" wie "moralische Instanz" und "Staatsdichterin" leben müssen, die Anhänger wie Gegner der DDR-Nationalpreisträgerin, die erst 1989 aus der SED ausgetreten ist, manchmal verliehen haben.
1993 war bekannt geworden, dass Wolf von 1959 bis 1962 von der Stasi zunächst als "Gesellschaftliche Mitarbeiterin" und dann als IM "Margarethe" geführt worden ist, was die Autorin nach eigenem Bekenntnis verdrängt hatte. Dagegen steht, dass sie und ihre Familie seit Ende der 60er Jahre systematisch von der Stasi ausspioniert wurden.
Bekannteste Werke
Zu Christa Wolfs bedeutendsten Werken gehören die Romane und Erzählungen "Nachdenken über Christa T.", "Kindheitsmuster", "Kein Ort. Nirgends", "Kassandra", "Medea. Stimmen" und "Der geteilte Himmel". Ihr letzter Roman "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" erschien im Sommer 2010.
Das Werk für sich sprechen lassen
"Ich verlasse mich darauf, dass die Leser in meine Bücher schauen und sehen, dass ich keine Staatsschriftstellerin war", sagte die Georg-Büchner-Preisträgerin dazu einmal.
2003 veröffentlichte sie Tagebuchauszüge von 1960 bis 2000. Ein neuer Roman soll laut Suhrkamp Verlag vermutlich im Frühjahr erscheinen.
Die deutsche Zerrissenheit
Wolf empfand es in den letzten Jahren der DDR zunehmend als Belastung, dass die Menschen in Ostdeutschland sie immer mehr als Galionsfigur für Zivilcourage und Widerstand in Anspruch nahmen und weniger als Literatin. Sogar als Staatspräsidentin einer "neuen DDR" war Christa Wolf im Gespräch. Sie sah sich wie ihre Kollegen Stefan Heym, Volker Braun, Heiner Müller und Christoph Hein, die ebenfalls auf der ersten freien Massendemonstration in Ost-Berlin am 4. November 1989 sprachen, einem gesellschaftlichen "Erlösungs-Erwartungsdruck" ausgesetzt, den sie weder erfüllen konnte noch wollte. "Was wollt ihr denn alle von mir? Soll ich ein Held sein, bloß weil ich Geschichten schreibe?", zitierte sie dazu Maxim Gorkis "Sommergäste".
Die "deutsche Zerrissenheit" fand in Wolf, die am 18. März 1929 im heute polnischen Landsberg/Warthe geboren wurde, ein literarisches Sprachrohr, nicht zuletzt in ihrer berühmten, von Konrad Wolf 1963/64 auch verfilmten Erzählung "Der geteilte Himmel". Noch in den letzten Tagen der zusammenbrechenden DDR hat sie zusammen mit anderen Künstlern den Aufruf "Für unser Land" unterschrieben, ein verzweifelter Versuch, den eigenständigen Weg eines anderen Deutschland weitergehen zu können.
Lebensstationen
- 1929 kommt Christa Wolf am 18. März im heute polnischen Landsberg an der Warthe zur Welt.
- 1945 flüchtet ihre Familien nach Mecklenburg.
- 1949 wird Wolf Mitglied der SED.
- 1949 bis 1953 studiert sie Germanistik in Jena und Leipzig. In dieser Zeit heiratet sie den Schriftsteller Gerhard Wolf. Das Paar bekommt später zwei Töchter.
- 1959 bis 1962 führt sie die Stasi zunächst als "Gesellschaftliche Mitarbeiterin" und dann als IM "Margarethe".
- 1961 wird ihr erstes Buch, die "Moskauer Novelle", veröffentlicht. Viele weitere folgen.
- 1963 erscheint "Der geteilte Himmel", Wolf wird dafür mit dem Heinrich-Mann-Preis geehrt. Später folgen Auszeichnungen wie der Deutsche Bücherpreis, der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur, der Georg-Büchner-Preis und der Thomas-Mann-Preis.
- Von Ende der 1960er Jahre an werden Wolf und ihre Familie von der Stasi ausspioniert.
- 1989 tritt Wolf aus der SED aus. Sie fordert ein Weiterbestehen der DDR.
- 1993 werden ihre früheren Stasi-Kontakte bekannt. Sie veröffentlicht daraufhin ihre Akte.
- 2003 veröffentlicht sie Tagebuchauszüge von 1960 bis 2000.
- Christa Wolf stirbt am 1. Dezember 2011 in Berlin.
Bölls östliche Zwillingsschwester
Wie findet ein Mensch zu sich selbst als Teil einer Gesellschaft und eines Landes, das man auch lieben möchte? "Nachdenken über Christa T." heißt eines der bekanntesten Bücher von Wolf. Sie hat ein Schriftstellerleben lang darüber nachgedacht und gearbeitet, in der DDR und in der Bundesrepublik. Der 1985 gestorbene Nobelpreisträger Heinrich Böll, als dessen "östliche Zwillingsschwester" sie manchmal bezeichnet wurde, ist Wolf zu einer "provozierenden Instanz in Gewissensfragen" geworden. Dabei habe er selbst immer die Zumutung zurückgewiesen, erinnerte sich die Autorin, "Gewissen der Nation" zu sein - was ja nur die Kehrseite des Bedürfnisses gewesen sei, ihn von Fall zu Fall zum Sündenbock der Nation zu machen. Wie Böll hat auch Wolf Vorbehalte gegen ihr Werk zu hören bekommen, es sei von "Gesinnungsästhetik" geprägt.
"Zu lange an die falschen Götter geglaubt!" war einer ihrer Selbstvorwürfe. Christa Wolf hat die DDR aber nie verlassen und hat es andererseits "nicht zugelassen, dass ihr Land sie verlässt". So meinte jedenfalls Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz in einem Beitrag zur "filmedition suhrkamp" (mit "Der geteilte Himmel", dem Film "Selbstversuch" nach einer Wolf-Erzählung mit Johanna Schall und einem Gespräch mit dem Ehepaar Wolf). Wolf hatte für sich nie eine Alternative zur DDR gesehen und wurde doch immer heimatloser - "Kein Ort. Nirgends", wie ein Buchtitel von 1979, wenige Jahre nach der Biermann-Ausbürgerung, heißt.
"Ich habe dieses Land geliebt"
Das schrieb Wolf einmal an ihren Kollegen Günter Grass. Sie meinte natürlich die Menschen und nicht den Machtapparat, der ihr vorschreiben wollte, was "positiv" und was "Glück" ist - für einen Schriftsteller per se eine völlig unkünstlerische Vorgabe, denn "angepasst kann man nicht schreiben, da fällt einem ja nichts ein", wie sie später sagen sollte.
Wolf gehörte mit ihrem Mann zu den Unterzeichnern der Protestresolution der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 aus der DDR. Danach hat sie ihr Land nicht mehr für reformierbar gehalten, um dann mit Michail Gorbatschow doch wieder neue Hoffnung zu schöpfen. Dabei hatte sie doch schon 1968 nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die damalige CSSR in ihrem Tagebuch notiert: "Es rast auf ein ungutes Ende zu...Wenn man erst einmal mit solcher Wucht aus den Schienen gesprungen ist, kommt man nicht mehr rein." Und 1983 hatte sie in ihrer berühmt gewordenen Erzählung "Kassandra" eine "Botschaft" versteckt, die die SED-Zensur nicht verstanden habe, wie Wolf später meinte, nämlich "dass Troja untergehen muss".
Frauen und Frieden
Kassandra ist ein Beispiel für die verknappte Formel "Frauen und Frieden", auf die man Wolfs literarisches Werk und gesellschaftliches Engagement bringen könnte. Die "weltgeschichtliche Niederlage der Frau" blieb ihr als Thema immer im Blick. Nach acht Lebensjahrzehnten sprach Wolf von "diesem 21. Jahrhundert, in das ich wider Erwarten noch hineingeraten bin, ohne recht heimisch in ihm zu werden". Manchmal, so meinte sie zu ihrem 80. Geburtstag im Jahr 2009, überkomme sie auch das Gefühl, "einer überholten, aussterbenden Art anzugehören, deren Erfahrungen nicht mehr gebraucht werden". Und doch wollte sie bis zuletzt aus drei Gesellschaftsordnungen Erinnerungen beisteuern, an "normales" Leben ebenso wie an Irrtümer, Konflikte, Zusammenbrüche, Verzweiflungen und Glücksmomente und "beharrliche Hoffnungen".
Text: dpa, Red., Audio: ORF