Ein Europa ohne Grenzen

Umstrittener Vordenker

Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges formuliert der junge Graf Richard Coudenhove-Kalergi eine politische Vision: Nie wieder, so Coudenhove-Kalergi, soll ein Bruderkrieg Europa verwüsten. 1922 gründet der gerade einmal 28-Jährige die Paneuropa-Union.

Ein Picknick im österreichisch-ungarischen Niemandsland sollte es werden, ein Statement für ein Europa ohne Grenzen, ein Fest der Völkerverständigung - gefeiert am Eisernen Vorhang, organisiert vom ungarischen Reformkommunisten Imré Pozsgay und Otto von Habsburg, seines Zeichens Präsident der Paneuropa-Union und Sohn des letzten österreichischen Kaisers.

Nur symbolisch sollte ein Grenztor für drei Stunden geöffnet werden. Was man nicht erwartet hatte: Hunderte DDR-Bürger nutzten die Gunst der Stunde, um in den Westen zu fliehen. Der Eiserne Vorhang war durchlässig geworden. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Die Bilder der Massenflucht gehen um die Welt: Erwachsene Männer liegen sich heulend in den Armen, Fremde erzählen einander ihre Lebens- und Leidensgeschichte, der Strom der Flüchtenden scheint nicht abzureißen.

"Pan-Europa", bis heute wird dieses Wort mit jenem legendären Sommertag im August 1989 in Verbindung gebracht, an dem sich der Eiserne Vorhang nach Jahrzehnten zum ersten Mal öffnete. Freilich, das Paneuropäische Picknick war wohl nicht mehr als ein Katalysator - längst war die Tauwetterstimmung in den Ländern des ehemaligen Ostblocks zu spüren gewesen, längst waren Hunderte Bürger der DDR in die ständige Vertretung in Berlin und in die deutsche Botschaft in Prag geflüchtet - in der Hoffnung, von dort aus weiter in den Westen zu reisen. Trotzdem gilt das Paneuropäische Picknick bis heute als eines jener Ereignisse, das den Anfang vom Ende des Ostblocks markiert. Was die Wenigsten wissen: Der Gründer der Paneuropabewegung, der das Picknick mitorganisiert hat, ist ein Onkel Barbara Coudenhove-Kalergis.

Pan-Europa

Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges formuliert der junge Graf Richard Coudenhove-Kalergi eine politische Vision. Nie wieder, so Coudenhove-Kalergi, soll ein Bruderkrieg Europa verwüsten. Um das zu verhindern, fordert der Aristokrat die politische Vereinigung Europas. 1922 gründet der gerade einmal 28-Jährige die Paneuropa-Union. 1923 verfasst er eine Streitschrift, die er der Jugend Europas widmet.

"Die Paneuropabewegung ist ein Elitenprojekt. Richard Coudenhove-Kalergi war überhaupt nicht interessiert eine Massenbewegung zu entwickeln, sondern er hat versucht, Kontakte zu Staatsmännern und Politikern aufzubauen. Zum Beispiel war er gut befreundet mit dem französischen Spitzenpolitiker Aristide Briand. Er war ein Netzwerker und - wie man es heute ausdrücken würde - ein Marketinggenie. Er hat sehr früh ein Logo entwickelt, das eine christliche Symbolik hatte mit einem roten Kreuz auf goldenem Grund. Das ganze erinnerte ein bisschen an die Kreuzfahrertradition. Auch mit dem Schlagwort Paneuropa war er medial recht präsent", sagt Oliver Rathkolb, Professor am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien, über das beinahe in Vergessenheit geratene politische Engagement Richard Coudenhove-Kalergis. Ein politisches Engagement, so beherzt wie isoliert: In einer historischen Epoche, die von nationalen Erweckungshysterien vorangepeitscht wurde, machte Coudenhove-Kalergi die Einigung Europas zum Mittelpunkt seiner politischen Agenda.

"Was, glaube ich, die Paneuropaidee der Zwischenkriegszeit auszeichnet, ist, dass es eine Bewegung ist, die gegen den Strom geschwommen ist", sagt Oliver Rathkolb. "Es sind ja nicht nur die faschistischen autoritären Bewegungen, die den Nationalismus forciert haben, sondern man findet das ja auch in vielen demokratischen Ländern wie der Schweiz, die sich abgeschottet hat."

In den 1920er und 1930er Jahren gehört Richard Coudenhove-Kalergi wohl zu den schillerndsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Ein Weltmann und Bonvivant, verheiratete mit der gefeierten Burgschauspielerin Ida Roland. Sohn eines hochdekorierten k.-u.-k.-Diplomaten und einer Japanerin. Coudenhove-Kalergi und seine Frau geben ein Glamourpaar ab, das man sich gut in einem mondänen 20er-Jahre-Jazzclub vorstellen kann. Richard Coudenhove-Kalergis ebenmäßige Züge verraten seine exotische Herkunft erst auf den zweiten Blick , das schwarze Haar ist der Mode der Zeit entsprechend zu einem strengen Seitenscheitel gekämmt, er ist ausgesucht elegant gekleidet, sein Auftreten ist einnehmend. Das zumindest weiß Thomas Mann zu berichten, nachdem er Coudenhove-Kalergi und seine Frau 1926 in Paris getroffen hat.

Ein schöner Mann

Ja, Richard Coudenhove-Kalergi hatte prominente Unterstützer. Auf der Homepage der Pan-Europabewegung werden unter dem Link "prominente Mitglieder" neben Thomas Mann unter anderem Albert Einstein, Franz Werfel, Georges Pompidou und Bruno Kreisky genannt. Wie sehr sich die Genannten tatsächlich engagierten, bleibt jedoch dahingestellt. Allzu konkret war Richard Coudenhove-Kalergi in seinen Forderungen ohnehin nicht. Dachte er an die Vereinten Staaten von Europa nach amerikanischem Vorbild? Oder schwebte ihm ein Staatenverbund wie die heutige Europäische Union vor? Richard Coudenhove-Kalergis Europavision bleibt schwammig, er umschifft die Details, über die sich Technokraten streiten mögen, um sich mit umso mehr Hingabe der großen Idee zu widmen.

In Dutzenden Büchern hat Richard Coudenhove-Kalergi seine paneuropäischen Idee vertreten, in der europäischen Kulturgeschichte gekramt, den Europagedanken historisch aus dem Karolingerreich Karls des Großen, oder sogar aus dem römische Imperium abgeleitet. Ein intellektueller Tausendsassa, auf dessen politischer Landkarte eines feststeht: Dieses, sein Europa ist ein christliches, wenn nicht katholisches. Richard Coudenhove-Kalergis Religiosität steht auf einem festen Fundament, sein Demokratieverständnis auf tönernen Füßen. Symptomatisch dafür: seine Sympathie für Engelbert Dollfuß' austrofaschistischen Ständestaat.

Flucht in die imperiale Vergangenheit

"Das Dollfuß-Schuschnigg-Regime hat ja versucht, eine Art österreichisch-deutsche Identität aus dem Boden zu stampfen. Ihr Argument: ´Wir sind die besseren Kulturdeutschen, weil wir so eine lange Tradition in der Monarchie haben", meint Oliver Rathkolb. "Es werden wieder die Uniformen der Monarchie eingeführt. In ganz Österreich bekommen Erzherzöge des Hauses Habsburg die, es gibt enge Kontakte mit Otto von Habsburg. Die Monarchie kommt ganz stark zurück in die Österreich-Ideologie des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes. Es ist eine völlig artifizielle Konstruktion. Eine Flucht in die barocke, katholische, imperiale Vergangenheit vor dem Hintergrund eines Gegenwartsdesasters auf allen Ebenen. Und in solchen Utopien hat sich Richard Coudenhove-Kalergi ganz gut orientieren können", sagt der Historiker Oliver Rathkolb.

Schon 1933 werden Richard Coudenhove-Kalergis Schriften in Deutschland verboten, die transnationale Orientierung der Paneuropabewegung musste den Nazis ein Dorn im Auge sein. 1938 fliehen die Coudenhove-Kalergis ins amerikanische Exil. Richard Coudenhove-Kalergi, Sohn einer japanischen Mutter, gilt als rassisch unrein, seine Frau Ida Roland ist Jüdin. Von den USA aus versucht Coudenhove-Kalergi die Paneuropabewegung weiter zu propagieren, an die Erfolge, die er in der Zwischenkriegszeit gefeiert hat, kann er aber nicht mehr anknüpfen. Erst als Otto von Habsburg, wie Coudenhove-Kalergi ein Kind der alten österreichischen k.-u.-k.-Monarchie, in den 1970er Jahren die Präsidentschaft der Paneuropabewegung übernimmt, erhält sie neuen Auftrieb.

"Nachdem Otto von Habsburg in den 1970er Jahren den Vorsitz übernommen hat, bekommt die Paneuropabewegung wieder etwas Schwung und zwar deswegen, weil Otto von Habsburg immer versucht hat, diese Teilung Europas im Kalten Krieg symbolisch aufzuheben", so die Einschätzung Oliver Rathkolbs. "Diesbezüglich sind Verdienste vorhanden, aber die hängen primär mit Otto von Habsburg zusammen und nur am Rande mit jener Hülle, die er benützt hat, mit der Paneuropabewegung."

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Paneuropa
Wikipedia - Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi