Protestkultur heute

Die Rückkehr des Protests?

Das Wort "Protestkultur" macht dieser Tage medial die Runde, ist so präsent, dass sein Gebrauch fast schon inflationär wirkt: Viele kleine Zellen der Empörung werden überall auf der Welt aktiv: Die "Occupy Wall Street"-Bewegung strahlt bereits bis nach Europa aus.

Entwickelt sich im Augenblick eine neue, global vernetzte Protestkultur? Fiebern wir einem zweiten Jahr 68 zu? Haben die Bürger genug von einer Politik, die von den Finanzmärkten vor sich hergetrieben wird? Einer Politik "nach der Krise", die nicht mehr handelt, sondern nur noch reagiert? Oder handelt es sich nur um einen Sturm im Wasserglas, einen erstickten Aufschrei derer, die am Ende die Zeche bezahlen?

Kulturjournal, 12.01.2012

"We are 99%", "Wir sind 99 Prozent", der Schlachtruf der "Occupy Wall Street"-Bewegung strahlt aus: vom New Yorker Finanzdistrikt, nach Los Angeles, Oakland, Frankfurt und London. Ein Slogan, der sich - man staune - auf den Artikel eines Wirtschaftswissenschaftlers bezieht. Galionsfigur einer Revolte, die eigentlich auf charismatische Anführer Marke Rudi Dutschke verzichten will, weil sie die Basisdemokratie, das kollektive Handeln also zu ihrem Herzstück gemacht hat.

"1 Prozent der US-Amerikaner", schrieb Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz im Mai 2011 in der amerikanischen "Vanity Fair", "verfügen fast über ein Viertel des nationalen Vermögens". Und Stiglitz prophezeite: Dagegen werden sich die restlichen 99 Prozent bald wehren. Stiglitz sollte Recht behalten. In einem Blog mit dem Titel "99%" veröffentlichten immer mehr Amerikaner ihre persönliche Geschichte.

Eine 25jährige Studentin etwa schreibt: "Ich studiere an einer öffentlichen Universität und möchte Vorschullehrerin werden. Nach meinem Abschluss werde ich einen Studentenkredit in der Höhe von 40.000 Dollar zurückzahlen müssen. Ich werde jährlich maximal 25.000 Dollar verdienen. Ich weiß nicht, ob ich jemals schuldenfrei sein werde. Ich bin die 99%."

Der Ruf nach Verteilungsgerechtigkeit

Am 17. September 2011 strahlte diese Kritik auf den öffentlichen Raum aus: Ein Demonstrationszug setzte sich in Bewegung, um ins Herz des globalen Finanzkapitalismus' vorzudringen und die Wall Street zu besetzten.

"Ursprünglich wollte man die Wall Street selbst besetzten, aber es stellte sich heraus, dass das völlig unmöglich ist", sagt Nick Farr, Wirtschaftsprüfer, Künstler und "Occupy Wall Street"-Aktivist der ersten Stunde. Farr weiß, wovon er spricht, wenn er die Risiken des Casinokapitalismus' anprangert, für die die Allgemeinheit in Form milliardenschwerer Bankenrettungen aufkommen musste. Viele ehemaligen Wall-Street-Banker, die 2008 ihre Jobs verloren haben, waren einst seine Kunden:

"Ironischerweise arbeite ich in derselben Straße, in der sich der Haupteingang der Börse befindet. Um in mein Bürogebäude zu kommen, muss ich einen ziemlichen Umweg nehmen, da der Platz vor der Börse abgesperrt ist."

Da die Wall Street selbst also uneinnehmbar blieb, ließ man sich in unmittelbarer Nähe nieder: im mittlerweile berühmt gewordenen Zuccotti-Park. "Am Anfang waren wir nur 20 oder 30 Leute, die einen kleinen Teil des Parks okkupierten", erinnert sich Nick Farr. "Dann wurden Zelte aufgestellt und immer mehr Leute sind gekommen, bis die Polizei das Camp im November geräumt hat."

"Die Wall Street gehört uns!"

Bevor es so weit war, wurde das Camp zu einem weltweiten Symbol, andere amerikanische Städte folgten dem New Yorker Beispiel, auch im Frankfurter Finanzzentrum errichteten Demonstranten ein Widerstandscamp. Der Zuccotti-Park erhielt immer mehr Zulauf, nicht zuletzt von Intellektuellen und Künstlern. Michael Moore hielt eine Rede, Spike Lee und Slavoj Zizek schlossen sich Demonstrationen an, Hollywood-Schauspielerin Susan Sarandon kam vorbei. Öffentlichkeitswirksame Solidaritätsbekundungen, die aber nicht darüber hinwegtäuschen können, dass die Verbindungen zur Kunst- und Kulturszene für seinen Geschmack viel zu unverbindlich und lose sei, meint Nick Farr:

"Viele Leute, die Teil der 'Occupy'-Bewegung sind, sind Künstler. Es gibt auch Versuche, die Kunstszene mit 'Occupy' noch mehr zu verzahnen, aber irgendwie funktioniert das nicht ganz. Ich denke, dass das auch mit dem Kunstmarkt zu tun hat. Es gibt Künstler, die ihre Gönner nicht verärgern wollen und deshalb eher zurückhaltend sind", erzählt Nick Farr, der gerade erst von Wien nach New York zurückgekommen ist.

Im Dezember war Nick Farr Artist in Residence im Wiener Museumsquartier und beschäftigte sich mit der Frage, wie die Kunst die "Occupy Wall Street"-Bewegung fortführen kann. Farr startete das Projekt "Love Letters to the Enemy" und forderte via Internet dazu auf, ihm Liebesbriefe zu schicken, die sich an einen Feind richten. Eine Übung, an deren Anfang die Frage steht, wer dieser Feind überhaupt ist. Keine unerhebliche Frage in einer Zeit, da sich zumindest im Westen die Kritik nicht gegen autokratische Diktatoren richtet, sondern gegen ein undurchsichtiges System, das die globale Wirtschaft an die Wand gefahren hat.

Farr hat Hunderte Briefe aus aller Welt erhalten, die er in New Yorks öffentlichen Raum, an Wänden, Zäunen und Hausmauern affichieren will. Diese Art, sich in den öffentlichen Raum einzuschreiben, sei typisch für die neuen Protestformen, sagt der Philosoph und Performance-Künstler Fahim Amir. Amir glaubt darin, eine Parallele zur Globalisierungskritik der 1990er Jahre zu erkennen:

"Für mich stellt sich innerhalb der aktuellen Protestformen vor allem eine Kontinuität her zur Seattle-Bewegung, die Ende der 90er Jahre sehr groß geworden ist, mit einem sehr großen Anteil symbolischer Politik. Das heißt, man macht keinen klassischen Arbeitskampf, wo die Maschinen still stehen, sondern sucht eher Protestformen im öffentlichen Raum, wie die Blockaden von großen Wirtschaftstreffen, oder heute die Besetzung öffentlicher Räume."

Das Feuer des Tahrir-Platzes

Für diese Besetzung öffentlicher Räume dienten der "Occupy Wall Street"-Bewegung nicht zuletzt die Protestierenden am Tahrir-Platz in Kairo als direktes Vorbild. Eine Vorstellung, die zuerst Internetaktivisten unters Protestvolk gebracht haben.

"Die haben ja zu den aller-, allerersten gehört, die gemeint haben, wir brauchen in den USA auch so etwas wie den Tahrir-Platz. Das hat dann mit so einer Email-Kette begonnen. Es war unmittelbar der Gedanke da, das Feuer des Tahrir-Platzes in die USA zu holen."