Zwischen Wachen und Träumen
Du bist, was du schläfst
Kann man schlau werden im Traum? Kann man seine Träume steuern? Fix ist, dass man alptraumhaft schnarchen kann und dass es Schlafwandler nicht nur im Film gibt. Auch gesichert ist die Existenz von Schlaflabors. In ein ebensolches hat sich Tobias Hürter begeben, um mehr über den Schlaf zu erfahren.
8. April 2017, 21:58
Jane Rider war Dienstmagd in Springfield, Massachusetts. Sie war 16 Jahre alt, gesund, wohlerzogen und gewissenhaft. Eines Nachts aber tat sie Sonderbares: Sie stand auf, deckte den Frühstückstisch, ging wieder zu Bett - und fragte am nächsten Morgen, wer ihre Arbeit getan habe.
In späteren Nächten räumte sie ihr Zimmer auf, nähte oder kochte, holte Feuerholz und Gemüse aus dem Keller, sang Lieder oder rezitierte Gedichte - ohne sich anderntags daran erinnern zu können. Jane Rider war psychisch schließlich so verwirrt, dass man sie in ein Irrenhaus sperrte. Dort wurde sie mit Drogen, Säurefußbädern und Obstentzug behandelt. Das bremste zwar ihre nächtlichen Aktivitäten, als Dienstmagd konnte sie freilich nicht mehr arbeiten.
Die Umtriebe der Jane Rider aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wären wohl in Vergessenheit geraten, hätte nicht ein Arzt ein vielbeachtetes Buch über sie geschrieben: "Schlafwandeln: der außergewöhnliche Fall der Jane C. Rider, der Schlafwandlerin von Springfield".
Die Eigenarten des Schlafs
"Beim Schlafwandeln ist es so, dass das Gehirn teilweise schläft und teilweise wach ist", erklärt Tobias Hürter. "Und dann ist es oft so, dass die basalen Hirnareale, also die, die wir von unseren evolutionären Vorfahren haben, erwachen, aber unsere Vernunft und unsere Moral, die schlafen weiter. Wir sind uns also nicht bewusst, aber ein Teil unseres Gehirns ist wach. Und dann tun wir seltsame Dinge."
Von den seltsamen Dingen beim Schlafwandeln im Besonderen und den Eigenarten des Schlafs im Allgemeinen erzählt Tobias Hürter in "Du bist, was du schläfst. Was zwischen Wachen und Träumen alles geschieht". "Was geht in uns vor, wenn wir schlafen, und wie es uns gelingt, nachts eine eigene Welt für uns zu schaffen" - davon handelt auf ebenso kurzweilige wie informative Weise dieses Buch, ein gut lesbares, populärwissenschaftliches Werk, das in seinem Aufbau der Dramaturgie der Nacht folgt - von der Dämmerung und dem Einschlafen am Abend bis zum Aufwachen am nächsten Morgen - und dabei Wissenswertes, in der Forschung durchaus kontrovers Diskutiertes über Träume und Alpträume, Bewusstsein und Erinnerung, Hirnfunktionen und Schlafphasen vermittelt.
"Der Körper, also unser Stoffwechsel, unsere Muskeln, bräuchten an sich überhaupt keinen Schlaf", meint Hürter. "Was die brauchen, ist Ruhe. Damit sich die Muskeln erholen und dem Stoffwechsel würde es auch genügen, sich hinzulegen und wach zu sein. Wir brauchen also ein gewisses Maß an Ruhe. Aber das Gehirn braucht tatsächlich Schlaf, sonst würden wir im wahrsten Sinne des Wortes verrückt werden, wenn wir nicht schlafen würden."
Auszeit des Gehirns
Während sich die Menschen mit Träumen und Traumdeutungen seit jeher beschäftigen, widmet sich die Wissenschaft erst seit relativ kurzer Zeit den Vorgängen im Gehirn während des Schlafs. Lange betrachtete man den Schlaf als eine Art Standby-Modus des Gehirns. Erst 1924 konnte der Psychiater Hans Berger Elektroden an einem menschlichen Gehirn anbringen, die Spannungen zwischen diesen auf ein Galvanometer ableiten und sie als Kurven auf Papier aufzeichnen. Das EEG war erfunden, das Elektroenzephalogramm, das Standardwerkzeug der modernen Schlafmedizin, und damit der Beweis erbracht: Das Gehirn ist aktiv, auch wenn der Mensch schläft oder bewusstlos ist.
"Früher dachte man, das Gehirn stellt seine Tätigkeit ein und nimmt sie nach ein paar Stunden wieder auf", erzählt Hürter. "Inzwischen weiß man, dass das nicht so ist. Das Gehirn stellt nicht seine Tätigkeit ein, sondern es kehrt sich nach innen. Es koppelt sich ab von den Sinneseindrücken von der Außenwelt und beschäftigt sich mit sich selber, spielt mit sich selber, mit den Erinnerungen, mit den Gefühlen. Es nimmt sich eine Auszeit von der Welt. Das ist das, was im Schlaf passiert."
Dösen, Leichtschlaf, Tiefschlaf
Den Schlaf als einen gleichförmigen Zustand gibt es eigentlich gar nicht, es gibt nur unterschiedliche Phasen der nicht mehr auf äußere Reize reagierenden Hirnaktivität: S 1, S 2, S 3 - Dösen, Leichtschlaf, Tiefschlaf. Wenn es um uns dunkel wird, schüttet die Zirbeldrüse Melatonin aus, das träge und schläfrig macht. Die Reaktionszeiten werden langsamer, die Muskelspannung sinkt, schnelle Hirnstromwellen weichen langsameren, aber kräftigen, der Stoffwechsel der Großhirnrinde beschleunigt sich - wir schlafen ein.
Etwa eine halbe Stunde später fallen wir in den Tiefschlaf, eine weitere Stunde danach beginnt eine erste der sogenannten REM-Phasen, der rapid-eye-movement-Phasen: Puls, Atmung und Hirnwellen beschleunigen sich, wilde Träume setzen ein. "Ein großer Teil unserer kognitiven Entwicklung findet in den frühen Schlafphasen der Nacht statt", erklärt Hürter - und spricht von "Aufräumarbeiten" des Gehirns: "wichtige Erinnerungen werden gefestigt, unwichtige Erinnerungen entsorgt, die sortierten Erinnerungen neu verknüpft und emotional neu bewertet".
"Wenn wir nicht schlafen würden, dann wären wir nicht wir selber", sagt Hürter. "Wir brauchen Zeit, um uns für das Leben in dieser Welt vorzubereiten, um die Eindrücke zu verarbeiten, um die Gefühle wieder in die Balance zu bringen, um unsere Erinnerungen zu sortieren. Dazu brauchen wir diese Auszeit. Dafür brauchen wir den Schlaf."
Was sind Träume?
Wie kommen Träume zustande - und welche Funktion haben sie? Eine der zentralen Fragen der Schlafforschung, über die heftig gestritten wird. Träume sind ein sinnloses Synapsengeflimmer, meinte der amerikanische Psychiater Allan Hobson. In Träumen schärft das Gehirn genetisch vorprogrammierte Überlebenstechniken, widersprach Jonathan Winson, was die vielen Angstträume und negativen Trauminhalte erklären sollte, die immer wiederkehrenden Jagd- und Verfolgungsszenen. Und auch Antti Revonsuo glaubte, durch Träume würden im Erbgut codierte Fähigkeiten ins Gedächtnis übertragen.
"Das ist eine neue Theorie über Träume, dass wir im Traum Überlebenstraining machen, für kritische Situationen üben", so Hürter. "Das können Prüfungssituationen sein, das ist auch ein häufiges Motiv in Träumen, das können Jagdsituationen sein. Das waren die kritischen Situationen für unsere Vorfahren damals."
Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf
Dass Träume auch schöpferisch und schlafende Menschen den wachen an Kreativität überlegen sein können, illustriert ein besonders frappierender Abschnitt in Hürters Buch. Er berichtet davon, dass Paul McCartney die Eingebung zu seinem Song "Yesterday" nachts im Traum hatte - und am nächsten Tag den Millionenhit zu Papier brachte; auch das Periodensystem der Elemente soll seinem Entdecker, Dimitri Mendelejew, zuerst im Traum erschienen sein, Elias Howe erfand die Nähmaschine im Schlaf und Jasper Johns sah sich im Traum zum ersten Mal die amerikanische Flagge malen. Rätselhaft wie diese Geniestreiche ist auch das Phänomen des luziden oder "Klarträumens".
"Beim Klarträumen ist es so, dass man sich seines Zustandes bewusst wird", erklärt Hürter. "Man weiß, dass man gerade träumt, und man kann seinen Traum steuern. Das galt lange als Unfug, als Hirngespinst. So etwas könne es nicht geben, haben die Forscher behauptet. Aber inzwischen wissen sie, dass so etwas tatsächlich möglich ist. Es ist im Labor reproduziert. Es gibt Klarträume, und man kann es lernen."
Tobias Hürter geht, manchmal vielleicht etwas sehr vereinfachend und salopp in der Formulierung, auf eine Fülle von Aspekten und widerstreitenden Theorien ein. Er erwähnt die neuen, bildgebenden Verfahren, die seit den 1990er Jahren die Schlafforschung revolutionierten, und die Schlafkultur des "inemuri", des kurzen Nickerchen-Machens, in Japan, die Traumdeutung Freuds und die Traumberichte des Artemidoros von Daldis, er zitiert Eichendorff, aber auch Haruki Murakami und Robert Schneider, schreibt über Schlafrhythmen und Schlafstörungen, über Traumyoga in Tibet und "senile Bettflucht", über indische Flussdelfine (als Extremschläfer) und den Dauerweltrekord im Wachbleiben, über Schnarchen und Gähnen.
"Was ist das Gähnen?", fragt Hürter. "Das ist eine der großen, ungelösten Fragen der Schlafforschung. Wir gähnen, wenn wir müde sind - aber warum genau gähnen wir? Weil wir mehr Sauerstoff brauchen? Stimmt nicht. Es gibt Forscher, die allen Ernstes behaupten, das tun wir, weil unser Gehirn zu warm ist, um es zu kühlen. Kann ich mir auch nicht vorstellen. Warum also gähnen wir? Da müssen die Forscher sagen, keine Ahnung. Noch rätselhafter ist, dass wir nicht nur gähnen, sondern dass wir uns anstecken lassen zum Gähnen. Da weiß man erst recht nicht, warum das passiert. Es gähnen ja nicht nur Menschen, es gähnen auch Fische, Schimpansen, Wellensittiche. Nur Giraffen gähnen nicht."
Keine vertane Zeit
Wir sollten dem Schlaf mehr Bedeutung beimessen und mehr auf unsere ureigensten Schlafbedürfnisse achten, meint Tobias Hürter, der selbst lange Zeit ein Schlafverächter war und die Zeit im Bett als vertane betrachtete. Inzwischen weiß er es besser: Schlaf ist wichtig für unsere geistige Entwicklung, er fördert das Gedächtnis, kann Ängste und Stress abbauen und "Geistesblitze" auslösen.
Wie man aber "richtig" schläft, ob acht Stunden notwendig oder fünf absolut ausreichend sind, ob der Schlaf ein durchgängiger sein muss oder öfter mal kurz schlafen das Non-plus-ultra ist, ist umstritten. Die Schlafforschung ist noch relativ jung, gesicherte Erkenntnisse sind rar.
Immerhin weiß man jetzt, was es auf sich hat mit dem ominösen Schlafwandeln, von Hürter etwas reißerisch zum "Volksleiden" erklärt und die daran Laborierenden als "Teilzeit-Zombies" etikettiert: nämlich dass jener Teil der Großhirnrinde, der für Aufmerksamkeit verantwortlich ist, in seiner Aktivität stark eingeschränkt ist. Und man weiß auch, dass man diese Krankheit besser nicht mit Obstentzug und Säurefußbädern kuriert, wie weiland bei Jane Rider, der Schlafwandlerin aus Springfield, Massachusetts, die im Schlaf den Haushalt versah.
Service
Tobias Hürter, "Du bist, was du schläfst. Was zwischen Wachen und Träumen alles geschieht", Piper Verlag
Piper - bist, was du schläfst