"9 scripts from a nation at war" im MoMA

Guantanamo-Protokolle als Lesung

Die gebürtige Oberösterreicherin Sabine Breitwieser hat es im internationalen Museumsbetrieb bis ganz nach oben geschafft. Seit September 2010 ist die ehemalige Leiterin der Wiener Generali Foundation Teil des Führungsteams des Museum of Modern Art in New York.

Als Chefkuratorin der Abteilung für Medien und Performance will sich Sabine Breitwieser vor allem dem Aus- und Aufbau der Sammlungsbestände ihrer Abteilung widmen. Nach und nach werden im MoMA nun die Ergebnisse dieser aktiven Ankaufspolitik präsentiert. Nach einer Videoarbeit des deutschen Filmemachers Harun Farocki, die sich mit dem Afghanistankrieg auseinandersetzt, ist seit kurzem eine Videoinstallation zu sehen, die erneut einen US-Kriegsschauplatz zum Thema macht.

Kulturjournal, 08.02.2012

Erschütternde Dokumente

Es ist eine szenische Lesung, die dem Zuschauer Sitzfleisch abverlangt. Denn fast fünf Stunden dauert die Reinszenierung der Militärtribunale, die zwischen 2004 und 2005 im US-Marinestützpunkt Guantanamo Bay stattgefunden haben. Und das, obwohl die Lesung nur einen Bruchteil der insgesamt 558 Anhörungsprotokollen wiedergibt, die das US-Verteidigungsministerium im Internet veröffentlicht hat.

Allein diese kaum zu bewältigende Informationsflut hatte es aber wohl verhindert, dass eine breite Öffentlichkeit auf die erschütternden Protokolle der Militärtribunale aufmerksam wurde - oder vielmehr auf die Widersprüche und Ungereimtheiten, die diese Anhörungen sichtbar machen. Das wollten die Künstler David Thorne, Katya Sander, Ashley Hunt, Andrea Geyer und Sharon Hayes mit ihrer Gemeinschaftsarbeit ändern. Sie machten die Guantanamo-Protokolle zum Ausgangspunkt einer künstlerischen Arbeit.

Alternative Geschichtsschreibung

Schon bei der letzten documenta war die Lesung der Guantanamo-Protokolle sowie deren Videodokumentation im Rahmen der Installation "9 scripts from a nation at war" zu sehen. Jetzt präsentiert das MoMA die Arbeit, die sich seit kurzem in den Sammlungsbeständen des Hauses befindet. Ein Projekt, das in Zeiten von Embedded Journalism und massenmedialer Deutungshoheit auch als Beitrag zu einer alternativen Zeitgeschichtsschreibung verstanden werden kann - einer Geschichtsschreibung, die das Detail nicht scheut und auf pointierte Zuspitzungen oder journalistische Verkürzungen verzichtet. Dafür bietet sich gerade das Medium Video an, sagt Kuratorin Sabine Breitwieser:

"Im Grunde geht es doch immer darum, wie man sich mit zeitgenössischen Fragestellungen auseinandersetzt und gleichzeitig auch mit Geschichte: Wie wird Geschichte geschrieben und wer schreibt Geschichte? Das ist ja auch der Grund, warum ein Medium wie Video seit den 1960er und 70er Jahren so beliebt ist, weil man gewissermaßen damit ja auch eine Art Geschichtsschreibung generieren kann."

Stell dir vor, es ist Krieg...

"9 scripts from a nation at war" ist eine 10-Kanal-Videoinstallation, die die Sprechakte derer, die über den Krieg sprechen, nachstellt. Der unabhängige Blogger kommt genauso zu Wort wie der Korrespondent von Al Jazeera, die Soldatin oder der Veteran, der über seine Schwierigkeiten spricht, sich wieder in den Alltag einzugliedern.

Obwohl die vorgetragenen Texte teilweise auf Interviews mit realen Personen basieren, sind es nicht unbedingt Individuen, die hier sprechen, eher schon Akteure, die jene Rollen verkörpern, die die Medien und die Gesellschaft für sie vorgesehen haben. Denn die Rhetorik des Krieges ist normiert, besteht aus vorformulierten Sprechblasen, die der Einzelne nur schwer zum Platzen bringen kann. Stell dir vor, es ist Krieg und jeder sagt, was er denkt - wie die Soldatin in "9 scripts from a nation at war", die eine flammende Rede für den Abzug aus dem Irak hält. Vor einem leeren Auditorium.

"Die meisten Künstler, die an der Gemeinschaftsarbeit '9 scripts from a nation at war' beteiligt sind, leben in den USA", sagt Breitwieser. "Sie waren oft mit der Frage konfrontiert, wie es eigentlich ist, in einem Land zu leben, das sich im Kriegszustand befindet. Nachdem die gestellten Fragen oft sehr stereotyp waren, haben sich die Künstler dazu entschlossen, über das Thema eine Arbeit zu machen", sagt Kuratorin Sabine Breitwieser über einen der jüngsten Ankäufe, die sie für das MoMa getätigt hat.

"Medienkunst ist nicht einfach Kunst..."

Zwei Ausstellungen hat Sabine Breitwieser bisher für das MoMA kuratiert, beide Ausstellungen beschäftigen sich mit US-amerikanischen Kriegseinsätzen. Bleibt also die Frage: Zufall oder Programm?

"Nein, das ist kein Zufall. Die erste Ankaufssitzung habe ich mit einer programmatischen Rede begonnen, in der ich vorgestellt habe, was ich hier machen will. Meine Abteilung widmet sich der Mediengesellschaft, dazu gehört auch die mediale Verbreitung und Aufbereitung des politischen Zeitgeschehens. Wir erleben heutzutage nahezu alles über Medien, werden von Medien manipuliert und definiert in unserem Auftreten, in unserer Identität. Medienkunst ist nicht einfach Kunst, die eine Steckdose braucht und ein Kabel, sie nähert sich Medien auch phänomenologisch."

Wie alle US-amerikanischen Museen wird das MoMA hauptsächlich von Geldern aus der Wirtschaft und von Privaten finanziert. Geht es um neue Ankäufe, ist Sabine Breitwieser auf die Zustimmung der MoMA-Trustees angewiesen, meist Geschäftsleute oder Gesellschafter großer Unternehmen. Offensichtlich hat es Breitwieser verstanden, diese von ihrem ambitionierten und durchaus politischen Programm zu überzeugen. Die erste große Ausstellung, die Breitwieser für das MoMA plant, wird diesen Herbst zu sehen sein. Der Titel verspricht wieder eine unorthodoxe Lektion in Sachen Zeitgeschichte und lautet "performing histories".

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MoMA - 9 scripts from a nation at war