Peter Henisch zum 100. Todestag des Autors

Mein Kreuz mit Karl May

Begonnen hat alles mit einem alten Karl-May-Band, den ich im Bücherregal meines Vaters gefunden habe. Dieser Band war zwar alt, der grüne Rücken und die Goldprägung ebenso verblasst wie das Titelbild, aber für mich ging ein Magnetismus davon aus.

Vielleicht lag es am Titelbild, auf dem ein Indianer im Kampf auf einem sich bäumenden Pferd saß und einen Tomahawk über dem Kopf schwang. Ich weiß gar nicht mehr, gegen wen er kämpfte, sein Gegner, ebenfalls zu Pferd, bleibt in meiner Erinnerung im nachgedunkelten Hintergrund.

Bitte mehr davon

Dieser Karl-May-Band ("Old Surehand") war noch keiner von den eher adrett aufgemachten der 50er Jahre, von denen ich mir dann, im Alter zwischen acht und zwölf, einen nach dem anderen wünschte und bekam. Er war noch in Frakturschrift gedruckt, was mir beim Lesen anfangs gewisse Schwierigkeiten bereitete. Aber ich fraß mich durch. Und dann wollte ich natürlich mehr davon.

Auf der Landstraßer Hauptstraße, wo meine Eltern mit mir an frühen Abenden spazieren gingen, gab es damals noch mindestens drei Buchhandlungen. Wie attraktiv diese Bücher doch damals wirkten! Allen voran "Winnetou I", na klar, den musste ich haben. Auf dem Schutzumschlag war er abgebildet, der edle Häuptling der Apachen, mit seinem schönen, schwarzen, in zwei Zöpfen auf die Schultern herabfallenden Haar, den Blick in die Ferne gerichtet, ein beeindruckendes Profil. Oh ja, der würde mir auch gefallen, sagte meine Mama.

Abenteuer in Ost und West

Doch nicht nur der abenteuerliche Westen, von dem der Autor May erzählte, übte schon durch die Titelbilder eine suggestive Wirkung aus, sondern auch der nicht minder abenteuerliche Osten. Wie Kara Ben Nemsi, begleitet von seinem treuen Diener und Freund Hadschi Halef Omar, durch die Wüste ritt, unter einem romantisch blauen Himmel mit Sternen, wie sie bei uns nie leuchten, das hatte etwas nicht minder Anziehendes.

So wurde ich mit Karl May acht, neun, zehn und elf, und besaß bis dahin ungefähr dreißig von seinen Büchern. "Der Schatz im Silbersee" war auch dabei, aber der imponierte mir, wie die meisten anderen Bände, die nicht in der Ich-Form geschrieben waren, weniger.

Das war es doch, was mich so einnahm für Karl May: dass er nicht einfach ein schreibender Stubenhocker war, sondern einer, der die Geschichten, die er da schrieb, wirklich erlebt hatte. Das glaubte ich ihm aufs Wort. Das bezweifelte ich nicht. Erst erleben, dann schreiben: So stellte ich mir das wahre Schriftstellerleben vor.

Der "große Flunkerer"

Und dann das: Eines Tages kam ein Kollege meines Vaters zu Besuch, der angeblich selbst weit gereist war. Es hieß, er sei in China gewesen, später in Mexiko (vielleicht, aber das habe ich später erst begriffen, in der Emigration). Der lachte angesichts der vielen Karl-May-Bände, die er in meinem Bücherregal stehen sah. Ja, sagte er, die meisten davon habe er seinerzeit auch verschlungen.

Ich war drauf und dran, den Mann sympathisch zu finden. Jemand, der sich offenbar gut mit Karl May auskannte. Bis er einen Satz sagte, der mich regelrecht schockierte:

Das war schon ein großer Flunkerer, sagte er, dieser May.

Wie bitte? Was bitte?

Na ja, klar, sagte er. Ein begnadeter Hochstapler. Der hat das doch alles, was er da schreibt, nicht erlebt. Jedenfalls nicht in der sogenannten Realität. In den Orient und nach Amerika ist der doch erst als alter Mann gekommen.

"Wirkliche" Literatur

Jahrelang wollte ich dann von May nichts mehr wissen. Zuerst habe ich meine dreißig Bände in die zweite Reihe meines Bücherregals gestellt und dann, mit vierzehn oder fünfzehn, an einen Buchhändler in der Wiedner Hauptstraße verkauft. Für meine damaligen Begriffe war der Erlös aus diesem Verkauf ein Haufen Geld. Aber ich habe dieses Geld erst recht wieder in Bücher investiert.

Schluss mit Karl May. Ich wollte jetzt wirkliche Literatur lesen. Und was, bitte, ist das?, fragt May in einem Buch, das ich ein paar Jahrzehnte später geschrieben habe. Er fragt das nicht mich, sondern Kafka, mit dem er, überraschenderweise, auf ein und demselben Schiff fährt. Möglicherweise sitzen wir ja doch alle im gleichen Boot.

Wirkliche Literatur. Vielleicht erkennt man sie daran, dass sie nicht nur wohl-, sondern auch wehtut. In so einem Buch soll nicht der Faustschlag stecken, der andere betäubt, sondern jener, der uns weckt.

Ja, aber, erwidert May, was Old Shatterhands berühmten Fausthieb betrifft... Es kommt dabei nicht auf die gewaltige Faust an, sondern auf die raffinierte Stellung der Fingerknöchel.

Service

Szenische Lesung, "Vom Wunsch Indianer zu werden. Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete", Mit: Erwin Steinhauer (Karl May), Florian Teichtmeister (Franz Kafka), Silvia Meisterle (Klara May), Peter Henisch (Erzähler), Freitag, 30. März 2012, 20:00 Uhr, Wien, Kammerspiele

Peter Henisch, "Vom Wunsch Indianer zu werden. Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete", Residenz Verlag

Karl May Gesellschaft