Neue Herausgeber, neue Themen

"Merkur" neu

In den Bücherregalen des sogenannten Berliner Zimmers stehen alle Jahrgänge des Merkur seit 1947 Spalier. An dem mächtigen Schreibtisch in diesem "oval office" der deutschen Edelpublizistik debattiert man seit Jahrzehnten nicht nur die Themen der Zeit, sondern vor allem jene, die nicht so recht in die Zeit passen wollen.

Seit den 1980er Jahren wurden diese Sondierungen Apostelgespräche genannt. Auf der Agenda standen die ästhetische Kategorie des Bösen genauso wie später der Verfassungspatriotismus der wiedervereinigten deutschen Republik. In jährlichen Themenheften widmete man sich den Ressentiments der Intellektuellen, dem verloren gegangenen Heroismus und, im Herbst 2011 dem wahren, vielleicht doch noch irgendwie heroischen Nonkonformismus, der nichts zu tun haben will mit der an dieser Stelle milde belächelten Rebellenpose von der Stange.

Verantwortlich für dieses letzte Themenheft mit dem zackigen Titelappell "Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind" waren das Herausgeberpaar Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel. Sie hatten die Geschicke des Hefts über 30 Jahre gelenkt. An Selbstbewusstsein mangelte es nie: Kurt Scheel hält den "Merkur" in seinem Abschiedsartikel im Dezember 2011 für die bestredigierte Zeitschrift Deutschlands und zitiert einen Absatz lang Lobeshymnen über "die führende deutsche Kulturzeitschrift, das Zentrum der liberalen Intelligenz, die intellektuelle Avantgarde, das verlässliches Forum für das unabhängige Denken".

Wachablöse

Zum Jahreswechsel kam es trotzdem zur Wachablöse des 79-jährigen Bohrer und des 64-jährigen Scheel. Zunächst wurde der Kunsthistoriker, Ex Journalist und Ex-Popmusiker Christian Demand als neuer Herausgeber beauftragt, der wiederum den Filmkritiker und Kulturwissenschaftler Ekkehard Knörer als Redakteur ins Boot holte.

Seit den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 war der "Merkur" in den Augen vieler Beobachter mehr und mehr zu einem konservativen Kampfblatt der eurozentristischen Eliten mutiert, das einem kontrovers diskutierten Heft die an Rosa Luxemburgs Forderung Sozialismus oder Barbarei!" anschließende Frage "Kapitalismus oder Barbarei?" stellte.

Auf die Anschläge in New York reagiert man für "Merkur"-Verhältnisse ungewöhnlich aktualitätsbezogen mit einer amerikafreundlichen Kampfansage gegen die dunklen Mächte des Fundamentalismus, die sogar die konservative "FAZ" mit dem Titel "Helm ab zur Gebetsmühle: Der Merkur macht mobil" kommentierte. Doch der resolute Ton im Namen der westlichen Aufklärung, sei nur ein Teil der Geschichte, sagt Christian Demand.

Deutsche Geschichte

In den Büroräumen der Redaktion findet man - trotz der nun eifrig vorangetriebenen Digitalisierung des Archivs - sie tatsächlich noch, die penibel geordneten Karteikästen mit der Ahnengalerie der Helden von einst: von Theodor Adorno bis Hans Magnus Enzensberger, von Rolf Dahrendorf bis Jürgen Habermas, der sich allerdings im Zuge dessen dezitierter Ablehnung der wiedervereinigungsfreundlichen Haltung des "Merkur" mit dem Ex-Herausgeber Bohrer überworfen hatte.

Überhaupt, die deutsche Geschichte: Sie lastet auch noch im Untertitel der Zeitschrift, der vor dem Hintergrund der deutsch-französische Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen wurde: Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken.

Hart am Wind

Der von der Politologie und Soziologie kommende Alt-Herausgeber Kurt Scheel nannte seinen Abschiedsartikel im Dezember: "Ich wollte eigentlich nie zum Merkur" und wünschte sich darin von der neuen Mannschaft, das kleine Schiff weiterzusteuern, und zwar "am besten hart am Wind".

Der eher ästhetisch orientierte Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer erinnerte in seinem Essay an die Vorteile einer publizistischen splendid isolation und feierte nochmals die in den "Merkur"-Heften zu Text verwandelte "Schönheit der klassischen Moderne".

Europa im Mittelpunkt

Sieht man sich die ersten Hefte nach der Neuübernahme an, bemerkt man rein äußerlich keinen großen Unterschied. Das Erscheinungsbild ist nach wie vor schlicht. Kein Leitartikel gibt die Marschrichtung vor, kein Editorial erklärt einen etwaigen Perspektivenwechsel.

Europa steht - ganz paradigmatisch - im Mittelpunkt der ersten Ausgabe. Ein Artikel des "FAZ"-Wirtschaftsredakteurs Rainer Hank plädiert, ganz in der Tradition des "Merkur"-Eigensinns, für Kleinstaaterei und gegen dieVvereinigten Staaten von Europa.

Der Jurist Christoph Schönberger eröffnet das Heft und fasst unter dem Titel "Hegemon wider Willen" ein heißes Eisen an: nämlich die Chancen und Verpflichtungen der Mittelmacht Deutschland.

Knörer, ein auch als Autor der linksliberalen "Taz" und als Co-Herausgeber des Magazins "Cargo" bekannter Filmspezialist, macht sich vor allem für eine alte Tradition des Merkur stark: den Essay.

Mehr weibliche Präsenz

Kein Zweifel: Der "Merkur" ist und bleibt ein elitäres Unternehmen im Schwenkbereich zwischen Politik und Ästhetik, zwischen akademischer Strenge und stilistischer Eleganz. Der ständig defizitäre "Merkur" wird vom Verlag Klett-Cotta querfinanziert. Dafür soll es sich gegen das alte Feuilleton und die vielen neuen Medien, aber auch gegen direkte Konkurrenten wie das im Februar wieder reanimierte, als links geltende "Kursbuch" behaupten. Knapp 5.000 Abonnenten gibt es bislang, die Bibliotheken miteingerechnet.

Das soll zumindest so bleiben, auch dank einer verbesserten Netzpräsenz und einer Frischzellenkur im Autorenbereich, bzw. vor allem im Autorinnenbereich, denn bis auf ein paar Ausnahmeerscheinungen wie Katharina Rutschky, Cora Stefan und Kathrin Passig war der "Merkur" bislang vor allem eine Männerangelegenheit. Körner ortet die Gründe des eklatanten Geschlechtermissverhältnisses auch in einem spezifischen Tonfall, der den "Merkur" charakterisiert.

Erste Ausgabe über Expertentum

Das erste Themenheft unter der neuen Leitung 2012 wird dem auch meist männlich besetzten Begriff des "Expertentums" gewidmet sein - vielleicht eine Möglichkeit, über Geschlechterverhältnisse zu reflektieren, ohne diese penetrant in die Auslage zu stellen. Die Mühlen der Zeit, so betont Demand, mahlen eben auch beim monatlichen Zeitschriftmachen langsam. Aber die Vorlieben der alten Garde, die "Merkur"ischen Sujets, die romantische Ästhetik und die eisigen Höhen der Staatskunst, haben unwiderruflich ausgedient.

Künftig soll es nichts mehr geben, was nicht verwertet werden kann in dem Berliner Umspannwerk der Diskurse: Comics, Pop oder zum Beispiel jetzt schon Karl Lagerfeld und die Burnout-Epidemie werden ernsthaft diskutiert. Vielleicht ist diese Wende zur seriösen Sichtung des Populären die schon jetzt sichtbarste Veränderung des neuen "Merkur".

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Klett-Cotta - Merkur