Hörspiel in zwei Teilen nach dem gleichnamigen Roman von Joseph Roth

Die Kapuzinergruft

Am 6. Dezember 1937 kündigt Joseph Roth dem holländischen Verlag De Gemeenschap in Bilthoven, bei dem er seit Oktober 1936 durch seinen Roman "Die Geschichte von der 1002. Nacht" unter Vertrag steht, ein neues Romanprojekt an.

Ich arbeite angestrengt an der Korrektur meines Buches: Ein Mann sucht sein Vaterland. Ich habe den Titel geändert. Er heisst jetzt: Der Kelch des Lebens. Ich verändere den ganzen Roman aus der dritten in die erste Person.

Ein halbes Jahr später, im Mai 1938, schreibt er an den Verlag:

Lassen Sie bitte meinen Roman den ‚Kelch des Lebens‘ zuerst erscheinen. Er ist leider äusserst aktuell geworden und ich schicke Ihnen das letzte Kapitel zu. Er führt bis zum Ende Österreichs und ist sicher wirkungsvoller in dieser Zeit als die ‚1002. Nacht‘. (….) Bis zum August bin ich mit diesem grossen Roman fertig, der für Sie wie für mich viel mehr bedeutet, als das nebensächliche und überholte Werk, von dem ich Ihnen trotzdem die Korrekturen spätestens innerhalb 10 Tagen schicken werde. Aber ich bitte Sie lieber den ‚Kelch des Lebens‘ abzuwarten. Sie verderben sich selbst und mir eine bedeutende Chance (…) Jetzt ist gerade die Zeit, in der eine Fortsetzung des ‚Radetzkymarsch‘ bis zum Ende Österreichs ein sicherer Erfolg wäre.

Am 8. Juni 1938 folgt ein weiterer Brief:

1.) Sie erhalten spätestens Anfang Juli die ersten Kapitel meines Romans, der jetzt nicht mehr: ‚Der Kelch des Lebens‘ heißt, sondern: ‚Die Kapuzinergruft‘.
2.) Ich bitte, diesen Titel vorläufig geheim zu halten. Er ist, er bedeutet, symbolisch, die wahrhaftige Fortsetzung des ‚Radetzky-Marsch‘.

Und am 26. September 1938 schreibt der Verlag an Roth:

Was Die Kapuzinergruft anbelangt, wir haben jetzt die typographische Ausführung so geändert dasz ein Buch entstehen wird von einem Aussehen und Grösze welche durchaus genügend sind.

"Die Kapuzinergruft" setzt im April des Jahres 1913 ein und endet mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich im März 1938. Roth reagierte innerhalb von Wochen auf die politischen Ereignisse. Held des Romans ist - wie bereits im "Radetzkymarsch" - ein junger Trotta, Franz Ferdinand, Spross einer Nebenlinie des Helden von Solferino, der dem Kaiser einst das Leben rettete. Franz Ferdinand, ein Kind der alten Zeit, kann und will sich nicht zurechtfinden in dieser neuen, anderen Welt. Er, ein Trotta, wurde hineingeboren in das Ende der gewohnten Ordnung. Die neue lässt ihn orientierungslos zurück. Seine Frau Elisabeth, die Mutter seines Sohnes, verlässt ihn. Sie wird die Geliebte einer Kunstgewerblerin und Frauenrechtlerin, fühlt sich zu neuen Künsten hingezogen und will schließlich nach Hollywood zum Film, um Schauspielerin zu werden. Als schließlich Franz Ferdinands Mutter stirbt, reißt das letzte Band zur eigenen Geschichte. Trotta bleibt "Allein, allein, allein." Seine einzige Rettung meint er in der Kapuzinergruft zu finden. Dort ist die alte Welt bewahrt und begraben.

Joseph Roth war einer der wachsamsten Autoren seiner Zeit, schon sehr früh erkannte er die Gefahr des Nationalsozialismus. Mit der Machtergreifung im Jänner 1933 verlässt er für immer Deutschland, um ins Pariser Exil zu gehen. Aber auch hier bleibt Roth ein Heimatloser. Er wird nie wieder nach Berlin zurückkehren, wo er einen Großteil der letzten zwölf Jahre verbracht hatte. Auch wird Zeit seines Lebens nie wieder ein Buch von ihm in einem deutschen Verlag erscheinen.

Am 19. März 1938, eine Woche nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich, veröffentlicht Roth in der Pariser Exilzeitschrift "Das Neue-Tagebuch" ein Feuilleton mit dem Titel "Totenmesse", in dem es zu Beginn heißt:

Eine Welt ist dahingeschieden, und die überlebende Welt gewährt der toten nicht einmal eine würdige Leichenfeier. Keine Messe und kein Kaddisch wird Österreich zugebilligt. (….) Die europäische Kulturwelt müßte sozusagen ein Begräbnis erster Klasse veranstalten, im wahrsten Sinne des Wortes: ein 'Staatsbegräbnis'; aber sie gleicht einem Gelähmten, der im Rollstuhl Totenwache neben einem Katafalk halten soll. Der preußische Stiefel stampft über älteste europäische Saat. Den Stephansturm, dem ein paar Jahrhunderte lang der Halbmond erspart geblieben ist, wird bald das Hakenkreuz in ein Unwahrzeichen verwandeln. Unter dem milden Himmel, in dessen Wölbung und Wolken die Melodien Beethovens und Mozarts und Bruckners beinahe greifbar schweben, rattern von nun an die stählernen Vögel Deutschlands, die Raubgeier von Preußen, und über der Kapuzinergruft flattert die alte schwarz-weiß-rote Feindin.

Ende Dezember 1938 erscheint Roths letzter Roman zu Lebezeiten. Der Klappentext lautet:

Die Kapuzinergruft ist das Gegenstück zum 'Radetzkymarsch' und der Roman vom Untergang Oesterreichs als selbständiger Staat. Eindrucksvoll und ergreifend hat Joseph Roth die Erzählung dieses letzten Untergangs beschrieben.

Auf Roths Wunsch wird das 1. Exemplar an Otto von Habsburg gesandt mit folgender Widmung: "Meinem Kaiser Otto in ehrwürdiger Ergebenheit gewidmet."

Text: Helmut Peschina

Service

"Aber das Leben marschiert weiter und nimmt uns mit. Der Briefwechsel zwischen Joseph Roth und dem Verlag De Gemeenschap 1936 - 1939", herausgegeben und eingeleitet von Theo Bijvoet und Madeleine Rietra, Köln 1991