Das Schiff - Der Untergang - Die Legenden
Titanic
Warum interessieren sich 100 Jahren nach dem Untergang der "Titanic" noch immer so viele Menschen für dieses Unglück? An der Anzahl der Opfer kann es nicht liegen. Zwar starben in der Nacht auf den 15. April 1912 mehr als 1.500 Menschen. Aber die größte Schiffskatastrophe war das bei weitem nicht.
8. April 2017, 21:58
Wer erinnert sich zum Beispiel noch an die 4.400 Menschen, die am 20. Dezember 1987 starben, als eine philippinische Fähre nach einer Kollision mit einem Öltanker innerhalb von zwei Stunden sank?
Der Untergang der "Titanic" geschah zu Beginn des Medienzeitalters. Bereits während des Sinkens ging die Nachricht von der Katastrophe per Telegraphie rund um die Welt. Zum ersten Mal in der Geschichte hatten die Menschen das Gefühl, einem Unglück hautnah beizuwohnen. Der Untergang entwickelte eine Eigendynamik, schreibt Linda Maria Koldau und bald schon war der "Mythos Titanic" geboren.
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Die "Titanic" ist zum Sinnbild einer Welt geworden, die durch menschlichen Hochmut, durch Hybris dem Untergang geweiht wurde. Zwei Jahre später brach der Erste Weltkrieg aus, der wie nie zuvor von einer neuen Technologie Gebrauch machte. Im Rückblick erschien die "Titanic" als Menetekel - wie sonst sollte man ihren Untergang deuten?"
Schneller, höher, weiter, größer
Innerhalb der ersten Wochen nach dem Unglück setzte ein Verherrlichungsprozess ein, der in der Geschichte von Katastrophen, die von Menschen selbst verursacht wurden, einzigartig sei, meint Koldau. Illustrierte veröffentlichten In-memoriam-Ausgaben, Theaterstücke wurden aufgeführt, Bücher erschienen und wenige Wochen nach dem Unglück wurde bereits der erste Stummfilm über den Untergang gezeigt.
Schneller, höher, weiter, größer. Die "Titanic" wurde zum modernen Äquivalent des Turmbaus zu Babel: Zum Synonym für die Hybris des Menschen. "Gender", "Class" und "Race". Diese drei Begriffe, die heute den Diskurs in den Sozialwissenschaften prägen, bestimmten auch das Sprechen über den Untergang der "Titanic". Auf ihr waren die Klassen noch strikt getrennt. Den Armen der dritten Klasse war der Kontakt mit den Reichen in der ersten Klasse untersagt.
In der einsetzenden Mythologisierung wurden die Reisenden der ersten Klasse als noble Menschen gezeigt, die Armen bloß als dumpfe, gefährliche, anonyme Masse.
"Frauen und Kinder zuerst"
Dass der Mann Gentleman-like zurückzustehen und seinen Platz im Rettungsboot den Frauen und Kindern anzubieten hat, auch daran erinnerte der Untergang der "Titanic". Die Frau war das schützenswerte Wesen, der Mann der edle Ritter. Und am edelsten waren natürlich die Briten.
Am bekanntesten ist die Geschichte von Kapitän Smith, der angeblich noch ein Kind rettete, bevor er im Atlantik versank. Britischer kann man nicht mehr sein.
Als geradezu klassische griechische Tragödie bezeichnet Koldau den Untergang der "Titanic". Hybris, Nemesis, Katharsis, also Hochmut, Fall und Läuterung, das alles finde man in den Erzählungen vom Untergang der "Titanic" wieder.
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Der strahlende Beginn mit den hohen Erwartungen an das neue Schiff, das heiter-ruhige Leben an Bord, dann die Kollision als plötzlicher, unvermuteter Handlungsimpuls, der nur von wenigen wahrgenommen wird. Anschließend das langsame Erwachen, das von Neugier über Beunruhigung und zunehmender Angst in Verzweiflung mündet, zuletzt aber, in einem geradezu symphonischen Finale, in Ruhe und würdevoller Annahme des Schicksals ausklingt.
Ein Schiff als Mikrokosmos der Gesellschaft
Linda Maria Koldau beschreibt in ihrem umfangreichen, spannend geschriebenen Buch alle Facetten der "Titanic". Das Schiff als Mikrokosmos der Gesellschaft wird bei ihr ebenso beleuchtet wie die ökonomischen Hintergründe. So legte im Frühjahr 1912 ein mehrmonatiger Streik der Kohlearbeiter den Schiffsverkehr lahm. Die "Titanic" konnte ihre Jungfernfahrt überhaupt nur deshalb antreten, weil die Vorräte anderer Schiffe auf sie umgelagert wurden. Trotzdem war das Lager nur zu zwei Drittel voll. Große Umwege, etwa um Eisberge zu umschiffen, waren deshalb nicht möglich.
Auch Passagieren und Besatzung widmet Koldau ein Kapitel. Sie schreibt über den Kapitän, die Senior- und Junioroffiziere, die Passagiere, die namentlich bekannt waren, und natürlich über die acht Musiker, die in die Geschichte eingingen, weil sie angeblich bis zum bitteren Ende spielten. Die öffentliche Heroisierung der Musikanten war bald schon im vollen Gange, aber Entschädigung bekamen die Angehörigen der toten Musiker keine.
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Die Künstleragentur Black in Liverpool, die die Anstellung auf der "Titanic" vermittelt hatte, lehnte jede Haftung mit dem Verweis darauf ab, dass die Musiker als Passagiere zweiter Klasse registriert worden waren. Die White Star Line dagegen definierte die acht Männer als Besatzungsmitglieder und verweigerte den Familien eine Entschädigung. Agentur, Reederei und Versicherung schoben sich gegenseitig die Akten zu; die Familien aber erhielten nichts.
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Linda Maria Koldau, "Titanic - Das Schiff - Der Untergang - Die Legenden", C. H. Beck Verlag
C. H. Beck - Titanic