Die neue Armut in der Konsumgesellschaft
Wir müssen leider draußen bleiben
Gerhard Hahn war Paketausfahrer. Nachdem er als Stahlhochbauer keine Arbeit mehr gefunden hatte, machte er sich selbstständig und lieferte für die Firma Hermes Sendungen aus. Leben konnte er eigentlich nicht von dieser Arbeit. Bei 70 Cent pro zugestelltem Paket und einem Stundenlohn von um die drei Euro konnte er sich auch keine Krankenkasse, geschweige denn die Rentenversicherung leisten.
27. April 2017, 15:40
Anfangs war er trotzdem froh, dass er überhaupt einen Job hatte. Nachdem er drei Jahre lang ohne Unterbrechung gefahren war, erlitt Gerhard Hahn einen Schlaganfall. Heute ist er arbeitsunfähig und bekommt, weil er nicht versichert war, auch keine Invalidenrente.
"Soziales" Unternehmertum
Michael Otto ist Unternehmer und einer der reichsten Deutschen, er ist Aufsichtsratsvorsitzender der Otto Group, dem weltweit führenden Einzelhandelskonzern, und wurde ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, unter anderem mit einem für eine "in ökonomischer wie ethischer Weise vorbildliche Firmenkultur".
Zu seiner Otto Group gehört auch die Hermes-Logistik-Gruppe mit den schlecht bezahlten Auslieferern. Für die sind Hermes bzw. Otto juristisch freilich nicht verantwortlich, arbeiten diese doch für Subunternehmer beziehungsweise sind selbst solche Subunternehmer.
Angesprochen auf die bescheidene Entlohnung der Zusteller, erwiderte Otto: "Ich kann nur sagen, die ganz, ganz große Mehrheit kann sehr gut davon leben. (...) 99 Prozent unserer gesamten Zusteller und Unternehmer sind zufrieden oder sehr zufrieden mit uns. Da geht es wirklich nur um Einzelfälle."
Doch da täuscht sich der als Vorreiter des sozialen Unternehmertums Gepriesene. Dass Gerhard Hahn kein Einzelfall ist, dass für viele nicht nur der im Paket- und Logistik-Geschäft Tätigen das Geld nicht zum Leben reicht, dass in dem gleichen Maße, in dem die Reichen immer reicher und bornierter die Armen immer ärmer und ausgegrenzter werden, kann man nachlesen in dem erschütternden Buch über "Die neue Armut in der Konsumgesellschaft", das Kathrin Hartmann geschrieben hat.
"Neue Armut" in den Industriestaaten
"Ich bin bei manchen Reportagen wirklich mit Kloß im Hals rumgelaufen, weil ich gedacht habe, das ist wahnsinnig beklemmend, wahnsinnig deprimierend, und das ist so ohne Not", erzählt Hartmann. "Diese Entwertung von Menschen, die jeden Tag wieder die Kraft finden, sich zu bemühen, arbeiten zu gehen... Das ist für mich Armut in Deutschland: Leute, die sich den Strom abstellen, damit sie ihre Miete bezahlen können, weil sie fürchterliche Angst haben, aus ihrem Viertel ausziehen zu müssen, wo sie noch den letzten Halt haben. Das ist die Armut, die man hier erleben kann."
Über eine Milliarde Menschen weltweit lebt in absoluter Armut, hat weniger als 1,25 Dollar pro Tag zur Verfügung und kann sich das zum Überleben Notwendige schlicht nicht leisten. Rund 30.000 Kinder sterben täglich an Ursachen, die durch Armut bedingt sind.
Doch Armut ist nicht allein ein Phänomen der Entwicklungsländer, sie breitet sich auch immer mehr in den Wohlstands- und Konsumgesellschaften aus, man spricht von der "neuen Armut" in den Industrienationen.
Ausgegrenzt durch Armut
In Österreich sind rund 12 Prozent der Bevölkerung arm oder armutsgefährdet, das sind rund eine Million Menschen. In Deutschland sind es 14,5 Prozent, also 11,5 Millionen Menschen beziehungsweise jeder Siebte. Tendenz steigend. Dabei gilt als "relativ arm", wer mit weniger als der Hälfte des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung des Landes, in dem man lebt, auskommen muss. Wer in Deutschland also nur noch rund 600 Euro im Monat zur Verfügung hat, ist "relativ arm".
Doch Armut ist nicht nur ein finanzielles Phänomen, sie ist auch und vor allem ein soziales. Wer arm ist, ist ausgegrenzt, ihm mangelt es an gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung, er wird - im Gegenteil - nicht selten als "Faulenzer" oder "Sozialschmarotzer" beschimpft, weil er staatliche Leistungen in Anspruch nimmt.
Alleinerziehende und Arbeitslose
"Die Armut in der Konsumgesellschaft kann deshalb sogar noch deprimierender sein als die in armen Ländern", sagt Kathrin Hartmann, die sich in ihrem Buch mit genau dieser Armut auseinandersetzt: "Ich habe eine Frau getroffen, die als Ärztin alleinerziehend mit sechs Kindern jetzt Hartz-IV-abhängig ist und an die Tafel gehen muss, aber natürlich arbeiten will und versucht, sich selbstständig zu machen. Ich habe mit einem Mann gesprochen, der hat früher gut verdient, weil er selbstständig war als Fliesenleger, aber mit Bandscheibenvorfällen usw. konnte er nicht mehr arbeiten. Der sagte, ich arbeite lieber mit Schmerzen als zuhause rumzusitzen. Oder die Frau, die zwei abgeschlossene Ausbildungen hat und unter anderem deswegen zur Tafel geht, damit sie von ihrem Regelsatz die Meisterschule bezahlen kann... Das ist schon wirklich schrecklich."
Arm, das sind vor allem Alleinerziehende, Arbeitslose und Langzeitarbeitslose. In Griechenland liegt die Arbeitslosenquote bei 24 Prozent, in Spanien bei 23 Prozent, von den jungen Italienern sind rund 32 Prozent ohne Job, von den jungen Briten 20 Prozent.
Die Volkswirtschaften schrumpfen, die öffentlichen Haushalte sind überschuldet, die finanzielle Lage wird für viele zunehmend prekär. Aber auch dort, wo die Wirtschaft nicht schrumpft, sondern wächst, wie in Deutschland, steigt die Armut. Das liegt, so Hartmann, vor allem an der falschen Arbeitsmarkt-Politik, einer Politik, die einst von der rot-grünen Regierung auf den Weg gebracht worden ist und unter "Agenda 2010" oder "Hartz IV" firmiert.
Zu wenig zum leben, zum Sterben zu viel
Um die Arbeitslosenzahlen zu senken, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren und die Wirtschaft wieder fit zu bekommen, hat man in Deutschland, aber nicht nur hier, eine Reihe umstrittener Maßnahmen durchgesetzt: das Arbeitslosengeld unter das Niveau der vormaligen Sozialhilfe gesenkt, den Niedriglohnsektor ausgebaut, den Kündigungsschutz gelockert und die Zeit- und Verleiharbeit ausgeweitet. Arbeitnehmer wurden in Ich-AGs verwandelt, die zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben verdienten und auf staatliche Transferleistungen angewiesen blieben. Kathrin Hartmann spricht, nicht zu Unrecht, von einem "großzügigen Geschenk der Regierung an die Wirtschaft":
"Hinter all dem steckt eine Verteilungsungerechtigkeit, die von der Politik in ein rechtliches Fundament gegossen worden ist. Das ist auch nicht der Gier Einzelner zuzuschreiben, dass von unten nach oben umverteilt wird. Aber dass diese Gier ausgelebt werden kann, dafür muss es ja einen gesetzlichen Rahmen geben. Und das macht mich an der ganzen Sache eigentlich am allermeisten wütend: Dass man sieht, es gibt mittlerweile auch in Deutschland eine für ein reiches Land extreme Armut, es gibt sogar Hungerarmut in Deutschland. Und auf der anderen Seite ein unglaubliches Vermögen, das sich aber bei einer immer kleineren Anzahl, dafür aber in einer immer größeren Menge konzentriert."
Kathrin Hartmann ist erbost über die wachsende soziale Ungerechtigkeit in Deutschland, über die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich - und über das Versagen der Politik und ihre diffamierenden Unterstellungen: Wer arm ist, ist selber schuld. Sie hat sich bei den "Tafeln" umgesehen, jenen auch in Salzburg, Wien und im Burgenland tätigen gemeinnützigen Hilfsorganisationen, die vom Handel aussortierte Lebensmittel an Bedürftige verteilen, hat dort entwürdigende Szenen erlebt und das Kaschieren, nicht aber Bekämpfen des Elends erkannt. Sie hat die gängigen Feuilletons belauscht - und da nicht Mitleid mit den Unterprivilegierten vernommen, sondern Solidarität mit den Etablierten - und den Tenor, die sozial Schwachen lebten auf Kosten der "Leistungsträger".
Ausgenützte Dritte Welt
Hartmann hat herausfinden wollen, was es mit dem "social business" auf sich hat, das Unternehmen heute gern für sich in Anspruch nehmen, die in Entwicklungsländern neue Märkte erobern – und ist nach Bangladesch gefahren, wo Danone einen teuren Joghurt einzuführen versuchte mithilfe selbstständiger Frauen, die Mikrokredite aufgenommen hatten, um Waren zu kaufen, die sie dann wie Drückerkolonnen wieder loszuwerden trachteten.
"Das verbindende Element ist, dass solche armen Länder - ich habe Bangladesch ausgewählt, weil es eines der ärmsten Länder ist - mit uns insofern zu tun haben, als sehr viele Dinge dort produziert werden, dass wir von der Armut dort auch profitieren. Und zum anderen, dass in solche Ländern wie Bangladesch unser Modell der Konsumgesellschaft langsam übertragen wird - durch solche scheinbar wohlmeinenden Maßnahmen wie Mikrokredite, hinter denen ein ganz klares ökonomisches Kalkül steckt: Die Armen auch in den Konsumkapitalismus einzubinden und irgendwie den Finanzmarkt noch abzusichern über die Kreditnehmer in den Blechhütten in den ärmsten Gegenden des Landes."
Mythos der Leistungsgesellschaft
Kathrin Hartmann schreibt temperamentvoll, fundiert und mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch. Es geht ihr nicht allein um Information, es geht ihr auch darum, wachzurütteln und Empörung auszulösen. "Wir müssen leider draußen bleiben" kritisiert die Abschottung der Oberschicht und die Gentrifizierung der Städte, die Eliteförderung im Bildungssystem und den Mythos der Leistungsgesellschaft, den Lobbyismus in Politik und Wirtschaft und den vermeintlichen Philantropismus spendenfreudiger Superreicher, die Plastiknahrung zur Armutsbekämpfung und die Mikrokredite als Schuldenfalle. Es geißelt den Trend zur Zwei-Klassen-Gesellschaft und den nackten Neoliberalismus in der Marktwirtschaft.
"Die Idee vom Markt und dass der Markt das regeln müsste - was uns ja seit Jahrzehnten ins Hirn gehämmert wird und erschütternderweise trotz aller Gegenbelege immer noch geglaubt oder gehofft wird - ist ja eine große Lüge. Denn natürlich retten ja immer wir. Die Profite werden privatisiert, die Schäden oder die Kosten sozialisiert. Das zahlen ja alles wir... Und das ist der Punkt, wo man anfangen muss nachzudenken, wie wir diese Macht dieser Konzerne und Banken brechen können und uns als Bürger diese Macht wieder zurückholen."
Kathrin Hartmann, die gründlich recherchiert und viel Haarsträubendes zusammengetragen hat, hegt große Sympathie für die "Occupy"-Bewegung, hofft auf eine noch stärker werdende Protestwelle und glaubt an die Kraft von Alternativen, an Wohlstand trotz Schrumpfung und eine gerechtere Wirtschaftsordnung ohne Ausgrenzung, Armut und Angst. Eine Wirtschaftsordnung, in der es nach wie vor besser und schlechter Verdienende gibt, Unternehmer und Paketausfahrer, aber vielleicht keine Milliardäre, die glauben, 99 Prozent seien mit einem Hungerlohn "zufrieden oder sehr zufrieden" - mit 70 Cent pro geliefertem Paket.
Service
Kathrin Hartmann, "Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft", Blessing Verlag
Blessing - Wir müssen leider draußen bleiben