Drei Romane neu aufgelegt

100 Jahre Tarzan

Wenn der bekannte ohrenbetäubende Schrei durch den Dschungel hallt, dann wissen die Urwald-Banditen, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hat - zumindest, wenn es nach Hollywood geht. Denn weil der legendäre Tarzan-Darsteller Johnny Weissmüller privat ein begabter Jodler war, durfte der ölige Muskelprotz seine Kunststücke an den Lianen lautstark einläuten.

In den Originalromanen von Edgar Rice Burroughs steht davon freilich nichts. Tarzan hat sich längst von seiner Papiervorlage gelöst und ist für viele Menschen zuallererst die familientaugliche Filmfigur, für einige auch der Tarzan aus den legendären Comics von Burne Hogarth. Die Buchreihe kommt erst später, ihren Schöpfer kennen überhaupt nur die wenigsten.

Ikone der Unterhaltungsindustrie

Tarzan ist wohl die erste Ikone der Unterhaltungsindustrie, ein amerikanischer Pop-Mythos. Tarzan ist eine Mischung aus Mowgli und Robinson Crusoe, mit dem stählernen Körper eines griechischen Halbgottes, wie ihn schon Rice Burroughs im ersten Tarzan-Roman vor genau 100 Jahren beschrieb:

Rice Burroughs wusste, was dem Publikum gefiel. Er wollte mit seinen Büchern vor allem eines: Geld verdienen. Rice Burroughs war wohl auch der erste Autor der Weltliteratur, dem es gelungen war, die Rechte an seiner Erfindung zu behalten.

Der amerikanische Karl May

Bereits sechs Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Tarzan-Romans folgte die Verfilmung und Burroughs verdiente sich eine goldene Nase. Er kassierte auch bei allen möglichen Merchandising-Artikeln mit, vom Tarzan-Kaugummi bis zum Malbuch. Dass er seinen Tarzan an das moderne kapitalistische Weltgegriebe verscherbelte, lässt sich aber besser verstehen, wenn man seine Biografie kennt.

Lange Jahre war Rice Burroughs nämlich ein armer Schlucker. All seine Geschäftsideen scheiterten, unter anderem als Vertreter für Bleistiftanspitzer. In dunklen Stunden dachte Burroughs an Selbstmord. In helleren griff er zu Pulp-Magazinen - Schundheften, in denen Abenteuerstorys abgedruckt waren. "Sowas kann ich auch", dachte er sich und nahm Kontakt zu einem Verleger auf.

Wenig später brachte er die ersten Zeilen über einen Abkömmling englischen Landadels zu Papier, der bei Affen im Urwald lebt - und war damit alle Sorgen los. Zehn Jahre und eine ganze Reihe weiterer Tarzan-Bücher später war Edgar Rice Burroughs reich und berühmt. Er kaufte sich eine Ranch nahe Los Angeles und nannte sie Tarzana, und so heißt der Ort noch heute. Edgar Rice Burroughs war so etwas wie ein amerikanischer Karl May: Seine Träume fanden Eingang in die moderne Mythologie.

Von Affen großgezogen

Die Geschichte kennt in Umrissen eigentlich jeder, aber vor allem bei den ersten Tarzan-Romanen lohnt es sich, sie etwas genauer zu lesen. In "Tarzan bei den Affen" geht um einen englischen Lord namens Greystoke, der mit seiner schwangeren Frau nach Afrika geschickt wird, um dort nach dem Rechten zu sehen. Die beiden werden von Meuterern auf einer verlassenen Insel ausgesetzt und müssen auf sich selbst gestellt der Natur und den Tieren trotzen.

Die Frau bringt im Urwald einen Buben zur Welt. Dem Lord gelingt es einige Zeit, seine kleine Familie zu beschützen, doch die großen Affen sind stärker: Lady Greystoke verliert den Verstand und stirbt, der Lord folgt ihr kurze Zeit später - der Anführer einer Gorillahorde tötet ihn. Die Äffin Kala verliert bei dieser Auseinandersetzung ihr Junges und nimmt stattdessen das nackte Menschlein mit und zieht es groß. Die Tarzan-Bücher sind voll von dieser archaischen Verstrickung von Geburt und Tod.

"Vollendete Männlichkeit"

Der Tarzan der Burroughs-Bücher ist wilder und urwüchigser als in den Verfilmungen. Ein nackter Kannibale, der durch den Dschungel tobt. Wenn er Hunger hat, meuchelt er einfach ein dahergelaufenes Dschungelvieh, beißt ein ordentliches Stück ab und lässt den Rest liegen. Er hat es nicht anders gelernt, der Halb-Affe.

Aber der Mythos Tarzan behandelt auch eine Menschwerdung, das Thema entstammt einem klassischen Bildungsroman. Mensch-sein ist bei Burroughs etwas Natürliches, etwas das zwischen Religion und Wissenschaft steht. Diese Menschwerdung des Weißhäutigen (denn nichts anderes bedeutet "Tarzan" in der Sprache der Affen) steckt von Geburt an in ihm drin: Er bringt sich selbst Lesen und Schreiben bei, sprechen kann er deshalb noch nicht. Er sieht sein eigenes Spiegelbild im Wasser, er entdeckt, dass er nackt ist und bedeckt seine Blöße vor den anderen Affen. Tarzan sieht sich selbst als hässliches Entlein, denn seine Affen-Familie ist viel behaarter, ergo hübscher. Die vollständige Sozialisierung erfolgt durch die letzte zivilisierende Kraft, eine Frau.

Jane Porter ist neunzehn Jahre alt und begleitet ihren Vater Professor Porter auf einer Expedition. Sie wird von der animalischen Seite Tarzans angezogen - und nimmt das primitive Mannsbild einfach mit in ihre Heimat. Janes Farm fungiert in weiterer Folge als Kompromiss zwischen Natur und Zivilisation, offen nach beiden Seiten. Tarzan, das wird durch die Bücher relativ rasch klar, ist eine gespaltene Persönlichkeit: immer ein bisschen der Nachfahre eines englischen Landadels, immer auch ein Halb-Affe, aber nie nur eines allein.

Konflikt zwischen Natur und Zivilisation

Dass die Tarzan-Bücher mit ihrem Konflikt aus Natur und Zivilisation auch eine politische Lesart aufweisen, wird zu Burroughs Zeiten noch in den Hintergrund gedrängt. Die Wilden, das sind immer die anderen, die ethnologische Sichtweise ist die eines Überlegenen. Tarzan wird quasi eingeschleust in die wilde Dschungelwelt, ist aber einer, der die Qualität hat, mehr zu sein als nur ein Eingeborener.

Die Geschichte spielt mitten in der oft grausamen Kolonialisierung, Rice Burroughs kennt Afrika nur vom Hören-Sagen und war selbst nie dort. Kein Wunder also, dass bei ihm die Löwen auf Bäumen lauern. Tarzan ist befreit von all dem politischen Wahn, er ist befreit von Gesellschaft, Ökonomie und Kultur.

Aus dieser Sicht ist auch der selbstverständliche Einsatz der Figur in der Propaganda gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg und dann gegen die Kommunisten im Kalten Krieg erklärbar. Die Widersprüche machen diese Figur so interessant, auch wenn Rice Burroughs sich mit Fortdauer des Erfolges immer weiter vom Grundthema der Geschichte entfernt hat. Spätere Tarzan-Bücher spielen längst nicht mehr im Dschungel, bauen stattdessen Fantasy-Elemente in den Stoff ein und lassen sogar das alte römische Imperium wieder auferstehen. In dem 1940 erschienenen "Tarzan und die Schiffbrüchigen" greift der Dschungelheld sogar in den Weltkrieg ein und in "Tarzan und der Verrückte” macht ihm ein mordender Doppelgänger zu schaffen. Ein buntes Trash-Potpourri.

Kitsch as Kitsch can

Über die literarischen Fähigkeiten von Edgar Rice Burroughs lässt sich auch 100 Jahre später noch streiten, manche Passagen sind voller Kitsch, viele einfach nur schlecht geschrieben. Aber der Mythos Tarzan ist legendär und hat seinen Schöpfer überlebt, das muss man neidlos anerkennen. Ein Rückblick auf die literarische Herkunft Tarzans zeigt auch, wie ein Mythos weitergesponnen werden kann, vor allem durch seine intermediale Übersetzung.

Der Tarzan des Films hat einige Elemente hinzuerfunden, die wir wie selbstverständlich der Figur zuordnen. Vom markanten Schrei über das etwas plumpe "Ich Tarzan, du Jane", bis hin zur liebenswürdigen Affendame Cheeta: Alles Erfindungen des Films. In den Büchern ist die beste Freundin Tarzans übrigens ein Panther namens Sheeta. Aber ein Panther am Filmset ist eben nicht unbedingt pflegeleicht. Irgendwann hört sich das mit dem Dschungel eben auch auf.

Service

Edgar Rice Burroughs, "Tarzan bei den Affen", "Tarzan und die Schiffbrüchigen" und "Tarzan und der Verrückte", drei Abenteuerromane, aus dem Englsichen übersetzt von Ruprecht Willnow und Marion Hertle, illustriert von Patric Sandri, Verlag Walde + Graf

Walde + Graf - Tarzan