Der Cliffhanger als lebensrettende Maßnahme
Die Geschichte der Geschichten aus 1001 Nacht
1001 Nacht lang weilt die Erzählerin unversehrt im Gemach des Königs. Wir wählen neun Geschichten aus. Mehr als 50 Schauspieler/innen, darunter Eva Mattes als Scheherazade, Ulrich Mühe, Ben Becker, Otto Sander, Walter Schmidinger oder Peter Matić sorgen für angemessene Sinnesfreuden.
8. April 2017, 21:58
Es ist ein wenig wie bei Wikipedia. Man weiß nicht, wer die Autoren sind, manchmal kommt etwas dazu, dann fällt wieder etwas weg, auf die Quellen kann man sich angeblich auch nicht recht verlassen - und dennoch werden die Geschichten gern gelesen und vielfach genutzt. Nicht viel anders geht es jener Textsammlung, die ohne Frage zu den bekanntesten Werken weltweit und zu den Klassikern der Weltliteratur zu zählen ist:
Den Geschichten aus 1001 Nacht.
"Typologisch gesehen", vermerkt Wikipedia, "handelt es sich um eine Rahmenerzählung mit Schachtelgeschichten." Wobei die bekanntesten und vor allem die bei Kindern so beliebten Geschichten in den frühen, ursprünglichen Versionen dieser morgenländischen Sammlung nicht einmal enthalten waren - kein Ali Baba und keine 40 Räuber. Sindbad, der Seefahrer wurde ebenso von einem Übersetzer hinzugeschmuggelt wie Aladin und seine Wunderlampe.
Aber wurscht. Da die Geschichten aus 1001 Nacht weder einen identifizierbaren Urheber haben noch ein auffindbares, schriftliches Original, darf auch hinzugefügt, erweitert, ergänzt und weggelassen werden, wie es jedermann und jederfrau beliebt.
Im Lichte der derzeitigen Urheberrechtsdebatte handelt es sich also um ein wirklich freies, offenes und ganz und gar durchlässiges Werk. Durchgesetzt hat sich, was gefällt, was politisch gerade machbar war und dem aktuellen Zeitgeist entsprach. In der weit mehr als tausendjährigen Geschichte dieser Textsammlung wurde das Werk unzählige Mal geknetet, bereinigt, verpflanzt, übersetzt, rückübersetzt, verfälscht, verfremdet und zensuriert. Ihr Ursprung liegt auch gar nicht im Morgenland, so wie wir es heute verstehen – also in der arabischen Welt –, sondern ein gutes Stück weiter östlich, irgendwo in einem zwischen Indien und China gelegenen Inselreich.
Dort nämlich herrscht der ebenso mächtige wie grausame König Schahriar. Als er entdeckt, dass seine Frau ihn mit einem Sklaven betrügt, macht er sie umgehend um einen Kopf kürzer. Seinem Wesir gibt er die Anweisung, ihm ab sofort jede Nacht eine neue Frau zuzuführen. Er heiratet die jeweiligen Damen kurzfristig und bringt sie nach der Hochzeitsnacht um. Schahriar fühlt sich nämlich tief gekränkt durch den Ehebruch seiner Frau und will sich bis zum Ende seiner Tage am Geschlecht der Frauen rächen. Bald jedoch gibt es in seinem Reich kaum mehr junge, heiratsfähige Frauen. Der für den Nachschub zuständige Wesir steht vor einer unlösbaren Aufgabe und fürchtet zudem, seine eigenen beiden Töchter an Schahriar, seinen Chef, verfüttern zu müssen. Die ältere der beiden, die kluge und hoch gebildete Scheherazade, verspricht das Problem aus der Welt zu schaffen. Sie überzeugt ihren verzweifelten Vater, sie dem seriellen Frauenmörder zuzuführen. Tatsächlich überlebt Scheherazade die erste Nacht. Sie überlebt die zweite, die dritte und auch die 1001. Nacht.
Ihre Wunderwaffe: Sie erzählt Schahriar Geschichten. Immer wenn es am Spannendsten wird, dräut die Morgenröte und der Herrscher verpflichtet die junge Dame für eine weitere Nacht. Literatur - das muss als Zwischenresümee festgehalten werden - kann Leben retten. Vorausgesetzt, die Geschichten sind gut und packend erzählt.
Es war allerdings ein langer Weg, bis aus den sinnlich-deftigen und keineswegs jugendfreien Geschichten aus Indien harmlose Märchen für europäische und amerikanische Kinder wurden. Zunächst einmal, vor mehr als 1000 Jahren, wurden die Geschichten aus dem fernen Indien ins Persische und vom Persischen wiederum ins Arabische übertragen. Dabei wurde die Sammlung nach und nach islamisiert und geografisch verschoben, neue Geschichten kamen hinzu, Kalifen und Dschinns betraten die Bühne. Und es sollte noch viele weitere Jahrhunderte dauern, bis die Geschichte von Schahriar und Scheherazade ihren Weg nach Europa fand. Es blieb dem französischen Orientalisten Jean-Antoine Galland vorbehalten, die Geschichten zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Erster ins Französische zu übertragen und damit ihren Siegeszug durch das Abendland einzuleiten. Er sei, sagt Galland, nur dann vom "Urtexte abgewichen, wenn es der Anstand erforderte". Aber der Anstand erforderte viel - zu viel, wie nachfolgende Übersetzer kritisierten.
Der deutsche Orientalist Gustav Weil, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine völlig neue Ausgabe vorlegte, ließ kein gutes Haar an der Arbeit seines französischen Berufskollegen. Galland, so Weil, habe bloß "danach gestrebt, seine Franzosen zu unterhalten", und habe "darum den Stoff ganz nach damaliger französischer Mode zurechtgestutzt." Die Wirkungsgeschichte der Galland‘schen Übersetzung war dennoch beträchtlich. Nicht nur dass Galland einige der heute bekanntesten Geschichten, wie die von Sindbad, die von Aladin oder die von Ali Baba, einfach hinzugefügt hat - mehr noch: Seine dem französischen Zeitgeist angepassten Geschichten aus 1001 Nacht wurden ins Arabische zurückübersetzt und begannen sich auch im Morgenland als gültige Version zu etablieren. Weil und Galland waren freilich nicht die Einzigen, die die Geschichten walkten, übersetzten und in unterschiedlichen Längen, Formaten und Sprachen auf den Markt brachten.
Der österreichische Orientalist und Diplomat Joseph von Hammer-Purgstall legte ebenso eine Übersetzung vor wie der 1821 geborene englische Weltenbummler und Forschungsreisende Richard Francis Burton. Seine Version, Ende des 19. Jahrhunderts in einer 16-bändigen Ausgabe erschienen, löste ob ihrer "Werktreue" im viktorianischen England einen handfesten Skandal aus. Denn er verbarg die pralle Sinnlichkeit der Geschichten nicht. Er holte die Erzählungen aus den Kinderzimmern, in die sie mittlerweile verbannt worden waren, und führte sie in die Schlafzimmer und auf die Schlachtfelder zurück. Genau hier schließt die deutsche Filmemacherin und Autorin Helma Sanders-Brahms an.
In den 1990er Jahren hat sie den Stoff für den Hörfunk bearbeitet, der aus Wien stammende Regisseur Robert Matejka hat zwölf Folgen daraus als Hörspiel inszeniert, Ö1 sendet im Juli und August - jeden Dienstag ab 21.00 Uhr - neun ausgewählte Folgen aus den Geschichten aus 1001 Nacht. Das DeutschlandradioKultur hat für die Realisierung dieses ehrgeizigen Projekts weder Mühen noch Kosten gescheut: Mehr als 50 Schauspieler/innen, darunter Eva Mattes als Scheherazade, Ulrich Mühe, Ben Becker, Otto Sander, Walter Schmidinger oder Peter Matić sorgen für angemessene Sinnesfreuden und für radiophonen Hochgenuss. Nach Erscheinen der Gesamtausgabe der Geschichten als Hörbuch-Edition hieß es in einer Kritik in der Zeitschrift Brigitte: "Unbedingt hören!" Allerdings erst, wenn "die Kinder im Bett sind!" Dem ist weiter nichts hinzuzufügen.