Ihr da oben, wir da unten
Römer im Schatten der Geschichte
Toll trieben es die alten Römer? Mag schon sein. Besonders sympathische Zeitgenossen scheinen die Bewohner des römischen Kaiserreichs dennoch nicht gewesen zu sein, zumindest nicht, wenn man Robert Knapps eindrucksvoller Studie über den Alltag der Unterschichten im antiken Rom glauben darf.
8. April 2017, 21:58
Wie imposant die Leistungen von Romulus' Erben auf technischem und künstlerischem Gebiet auch gewesen sein mögen: Aus heutiger Sicht herrschten in der römischen Gesellschaft etwa der Augustus-Zeit und auch später unerhört rohe und gewalttätige Verhältnisse.
Alltag der "kleinen Leute"
Es geht dem Berkeley-Historiker Robert Knapp in seiner Studie nicht um Leben und Wirken von Herrschaften wie Seneca, Tacitus, Cicero, Sallust und anderen Heroen des gymnasialen Lateinunterrichts - allesamt Angehörige der reichen und superreichen Elite -, sondern um den Alltag von Tagelöhnern, Handwerkern, Sklaven, Landarbeitern und ihren Familien. Knapp schreibt:
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Dieses Buch beschäftigt sich mit Menschen, die von der Geschichte vergessen wurden. Ich versuche aufzuhellen und zu verstehen, wie das Leben der breiten Bevölkerungsschichten aussah, die in den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung in Rom und seinem Reich beheimatet waren.
75 Prozent Unterschichtler
50 bis 60 Millionen Menschen lebten im Römischen Reich, davon gehörten etwa 0,5 Prozent der wohlhabenden Oberschicht an. Darunter gab es Knapps Schätzungen zufolge eine relativ schmale Mittelklasse, die vielleicht 25 Prozent der Gesamtbevölkerung umfasste, Kaufleute, Handwerker, Lehrer, Ärzte, Architekten und kleinere Ladenbesitzer mit ihren Familien. An der sozialen Basis des Römischen Reichs stand eine breite Unterschicht, die etwa drei Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachte. Das entspricht der Sozialstruktur eines heutigen Drittweltlandes.
Knapp zeichnet die römische Gesellschaft als harte, unglaublich brutale Gesellschaft, die für egalitäre Humanitätserwägungen keinerlei Platz hatte. Der durschnittliche Bürger des römischen Reichs orientierte sich Knapp Darstellung nach an folgenden Prinzipien:
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Behandle Gleiche als Gleiche; die unter dir Stehenden nutze, wenn möglich, aus; den über dir Stehenden beuge dich immer. Der Sinn des Einzelnen war darauf gerichtet, einer sei es physischen oder psychischen Verletzung zu entgehen, anderen hingegen Verletzungen zuzufügen - in römischen Begriffen: Man verteidigte seine Ehre und Stellung, indem man die Ehre und Stellung anderer beschnitt und zugleich die eigene zu schützen versuchte."
Dass man Hilflosen und Schwachen helfen soll, auch wenn sie nicht der eigenen Familie oder dem eigenen Clan angehören, ist offenbar eine Zutat, die erst das Christentum in die europäische Kultur eingebracht hat. Im Römischen Reich vorchristlicher Prägung war von solchen Humanitätsduseleien keine Rede. Jemandem zu helfen, nur weil es ihm schlecht geht, darauf wäre im Rom des Jahres 100 niemand gekommen. Unter einem "guten Menschen" verstand man damals etwas anderes als heute, betont Robert Knapp.
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Gut war, wer sich um notleidende Verwandte, zum Beispiel Witwen, kümmerte, nicht aber der, der für Personen außerhalb des Familienkreises sorgte.
Prinzipien, die heute noch in weiten Teilen der Welt Gültigkeit haben.
Von der Hand in den Mund
Wie muss man sich nun den Alltag der römischen Unterschichten vorstellen? Die Quellenlage ist dünn, äußerst dünn. Die römischen Autoren, deren Schriften überliefert sind, waren ausschließlich Angehörige der saturierten Oberschicht; mit etwas so Geringwertigem wie dem Leben der unteren Klassen beschäftigten sich diese Schriftsteller nicht. Knapp stützt sich auf die wenigen Zeugnisse, die doch überliefert sind, auf die "Bekenntnisse" des Augustinus oder Apuleius' köstlichen Roman "Der Goldene Esel" zum Beispiel, aber auch auf Grabinschriften, Graffiti und Traumbücher.
Wie lebten sie nun also, die "kleinen Leute" im großen römischen Reich?
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65 Prozent der Bevölkerung, so schätze ich, Sklaven und Freie, führten eine Existenz "am Rande". Sie waren arm. Diese Armen lebten überwiegend von der Hand im Mund, das heißt, sie hatten gerade genug, um satt zu werden, und nur selten genug, um zu sparen, zu investieren und eine Veränderung ihrer Situation herbeizuführen. Ihr gesamtes Interesse war auf ein einziges Ziel gerichtet - das Überleben.
"Normale" Gewalt
Die Lebenserwartung im Römischen Reich war nach heutigen Begriffen gering: Die Hälfte der Bevölkerung wurde nicht älter als zwanzig; die durchschnittliche Lebenserwartung lag deutlich unter fünfzig. Der Tod war im Leben einer römischen Familie immer gegenwärtig, vor allem auch der hohen Kindersterblichkeit wegen. Kein Wunder, dass der Aberglaube blühte. Amulette galten als wirksamer Zauber gegen Krankheiten und Unglücksschläge aller Art, Horoskope, Wahrsagerei, Traumdeutung, Vogelschau und Hokuspokus jeglicher Provenienz waren selbstverständlicher Bestandteil der römischen Alltagskultur.
Auch Gewalt war alltäglich und normal: die Gewalt des Sklavenhalters über seine Sklaven, die Gewalt des Pater familias über seine Frau und seine Kinder, die unhinterfragt und selbstverständlich misshandelt und verprügelt werden konnten, ohne dass irgendjemand etwas dabei gefunden hätte.
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Jeder Aspekt des Lebens im Römischen Reich schloss Gewalt mit ein, Gewalt war normal.
Wozu im öffentlichen Leben natürlich auch die berüchtigten Gladiatorenspiele gehörten und brutale Hinrichtungsarten wie das Kreuzigen oder das Von-Wilden-Tieren-zerfleischen-lassen.
Das Recht des Stärkeren
Das vielgerühmte Römische Recht übrigens darf man auch nicht idealisieren. Die meisten Richter waren korrupt und bestechlich, so gut wie ausgeschlossen war es, dass ein Niederrangiger gegen einen Höherrangigen Recht bekam, außer er versicherte sich der Patronage eines mächtigen Schirmherrn, oder er ließ sich die Bestechung des Richters einiges kosten.
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Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass der gewöhnliche Römer das Rechtssystem fast systematisch mied. Überraschend ist das kaum: Das System des römischen Rechts war von der Elite geschaffen worden, und die Gesetze wurden zu ihren Gunsten ausgelegt.
Die Zahl der Sklaven in der römischen Gesellschaft war übrigens keineswegs so hoch wie man annehmen möchte. Knapp schätzt ihre Zahl auf etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung: Sklaven waren teuer, und nur die Wohlhabenden konnten sich Leibeigene leisten. Vorwiegend wurden Sklaven, zumindest im städtischen Bereich, in der Hausarbeit eingesetzt.
Bakterienbrutstätte Bad
Auch die römischen Bäder darf man sich nicht allzu luxuriös vorstellen. Der Normalbürger Roms oder, sagen wir, Vindobonas plantschte in der Regel in einer Dreckbrühe.
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Alles, was die Menschen an Unrat, Dreck, Körperflüssigkeiten und Keimen mit ins Bad brachten, hatte das Wasser alsbald auf die übrigen Badenden übertragen. Vor allem im Warmbad dürfte die Bakterienzahl astronomische Höhen erreicht haben.
"Invisible Romans", "unsichtbare Römer", so heißt Robert Knapps Buch im Original. Dem emeritierten Berkeley-Professor gelingt es auf anregende und anschauliche Weise, den Alltag von Tagelöhnern, Sklaven, Gladiatoren, Banditen und Prostituierten im Römischen Reich lebendig werden zu lassen. Ein eigenes Kapitel ist dem Alltag der Frauen, auch der wohlhabenderen, gewidmet. Bei aller historischen Sachlichkeit würzt Knapp seinen Stil mit profunder Menschenfreundlichkeit und einem guten Schuss Humor. Ein lesenswertes Buch. Ganz große Empfehlung.
Service
Robert Knapp, "Römer im Schatten der Geschichte - Gladiatoren, Prostituierte, Soldaten, Männer und Frauen im römischen Reich", aus dem Englischen übersetzt von Ute Spengler, Klett-Cotta
Klett-Cotta - Römer im Schatten der Geschichte