Befreier Südamerikas. Geschichte und Mythos

Simón Bolívar

Die Renaissance des Bolivarianismo, auf Deutsch am besten mit Bolivarismus übersetzt, ist heute in Lateinamerika in voller Fahrt. Sie wird im Allgemeinen mit dem venezolanischen Staatschef Hugo Chávez verbunden.

Der Bolivarismus zieht sich jedoch schon seit fast zwei Jahrhunderten wie ein roter Faden durch die Geschichte Lateinamerikas. Einmal mehr und einmal weniger stark.

Die Vereinigung der Länder der südlichen Hemisphäre Amerikas gegen den Norden ist eine konstante Idee im Denken fortschrittlicher Köpfe und Regierungen Lateinamerikas. Diese Utopie steht heute einer zumindest teilweisen Verwirklichung so nahe wie noch nie zuvor - was zweifellos ein Verdienst des venezolanischen Präsidenten und Bolívar-Verehrers ist.

Kriminaltechnisch untersucht

Es gehört wohl auch zum Bolívar-Mythos, dass Chávez im vergangenen Jahr die sterblichen Überreste des Befreiungshelden von fünfzig Kriminaltechnikern exhumieren ließ. Nach der offiziellen Version starb Bolívar am 17. Dezember 1830 in Santa Marta im Norden Kolumbiens an Tuberkulose, als er sich gerade ins europäische Exil einschiffen wollte. Chávez ist anderer Meinung:

"Ich bin nicht davon überzeugt, dass Bolívar an Tuberkulose gestorben ist. Er ist drei Monate vor seinem Tod sehr viele Meilen gereist, was für einen Tuberkulose-Kranken nicht möglich gewesen wäre. Ich glaube, Simón Bolívar wurde getötet. Ich habe keinen Beweis, aber ich denke, dass er ermordet wurde", so der venezolanische Präsident. Laut einer Untersuchung der University of Maryland starb Bolívar an einer Arsen-Vergiftung, wobei unklar bleibt, ob es eine beabsichtigte Vergiftung war.

Streben nach Ruhm

Der spätere Befreiungsheld Südamerikas wurde 1783 in Caracas geboren; Vater und Mutter entstammten reichen und mächtigen kreolischen Familien. Obwohl die Eltern früh verstarben, wurde dem kleinen Simón von der Verwandtschaft quasi als Familienerbe das Streben nach gloria, nach Ruhm, in die Wiege gelegt. Der venezolanische Historiker Germán Carrera Damas formulierte das folgendermaßen:

Im Alter von 16 Jahren fährt der junge Simón Bolívar zur Vervollständigung seiner Elite-Erziehung für drei Jahre nach Spanien. Noch weist nichts darauf hin, dass er dereinst den Aufstand gegen die Kolonialmacht anführen und siegreich beenden würde.

Der "Libertador"

Der Autor Michael Zeuske, einer der besten Kenner der Geschichte Lateinamerikas, insbesondere des karibischen Raumes, präsentiert keine chronologisch gegliederte Biografie des Befreiers, sondern ihn interessiert vor allem der Mythos rund um Bolívar. Die von diesem militärisch geleitete Unabhängigkeitsbewegung führte zwischen 1810 und 1830 zur Befreiung der meisten Länder des Subkontinents vom spanischen Kolonialjoch. Schon 1819 erhielt er den Titel "Libertador" - Befreier.

Ab 1810 entstand eine Vielzahl von Porträtbildern, von Medaillen und Denkmälern des Helden. Er lebt in vielen Erzählungen und Liedern und in oralen Versionen der Geschichte der Unabhängigkeit Südamerikas weiter. Bolívar-Statuen und -büsten gibt es nicht nur in allen Winkeln Lateinamerikas, sondern auch in vielen Großstädten der Welt, in London und in New York, in Hamburg - und auch in Wien im 22. Bezirk im Donaupark.

Unerreichtes Vorbild

Die Botschaft, die sich mit Bolívar und seinem Mythos verbindet, ist relativ simpel. Es ist die Erzählung von einem außergewöhnlichen Menschen, von einem Helden, der durch Mut und Entschlossenheit faktisch einen ganzen Kontinent, Südamerika, befreit hat. Michael Zeuske spannt den Bogen in die Gegenwart:

Je nach Bevölkerungsschichte wird ein entsprechend zugeschnittener Bolívar verehrt. Der mulattische Bolívar mit einem dunkelhäutigen Gesicht ist der Kämpfer für Gleichheit, für Agrarreformen und gegen Sklaverei. Der indianische Bolívar wird als Nachfolger des rebellischen Kaziken Guaicaipuro gezeichnet, der Mitte des 16. Jahrhunderts den Widerstand gegen die Spanier anführte. Und dann gibt es noch den Bolívar der Intellektuellen und Literaten, wie ihm etwa Gabriel García Márquez in seinem Roman "Der General in seinem Labyrinth" ein Denkmal setzte.

Seit den 1980er Jahren und besonders seit 1999, dem Beginn der ersten Präsidentschaft von Hugo Chávez, wurde der Libertador in Richtung eines "sozialrevolutionären Bolívar" umgedeutet. Beim Karnevalszug in Rio de Janeiro 2006 wurde eine zwölf Meter hohe Bolívar-Statue mitgeführt, begleitet von Bildern von Che Guevara, Salvador Allende und anderen Befreiungshelden. Das Pantheon der Linken Lateinamerikas hatte seinen Gott gefunden.

Service

Michael Zeuske, "Simón Bolívar. Befreier Südamerikas. Geschichte und Mythos", Rotbuch Verlag

Rotbuch - Simón Bolívar