Kommentar zu Johannes 6, 41 – 51

Für Regina Polak ist dies eine tröstliche Schriftstelle: Gott lässt sich durch das Murren der Menschen nicht beeindrucken und bleibt den Menschen treu.

Das Volk Gottes wird aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Alsbald ist es unzufrieden: „Als aber das Volk nach Wasser dürstete, murrten sie wider Mose und sprachen: Warum hast du uns aus Ägypten ziehen lassen, dass du uns, unsere Kinder und unser Vieh vor Durst sterben lässt?“, erzählt das Buch Exodus.

Angekommen im verheißenen Land sind die Menschen wieder nicht zufrieden. „Und sie achteten das köstliche Land gering; sie glaubten seinen Worten nicht und murrten in ihren Zelten; sie gehorchten der Stimme des Herrn nicht“, erinnert sich Psalm 106.

Das Murren hat lange Tradition in der Heiligen Schrift. Allein das Buch Numeri erzählt von zehn Fällen des Murrens gegen Aaron, Moses und letztlich Gott selbst. Nach dem großen Befreiungsereignis des Exodus ist die ganze Wüstenwanderung vom Widerstand und Aufbegehren Israels geprägt. Murren, das bedeutet im Hebräischen das innere Grummeln, Groll und Widerstand, aber auch das öffentliche Aufbegehren, Rebellion, Meuterei und Widerstand.
Die Bücher Exodus und Numeri berichten vom immer wieder aufflammenden Zorn Gottes über dieses Murren. Letztlich aber erweist sich Gott als geduldig und erfüllt sogar die Bitten seines Volkes: „Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sage ihnen: Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden und sollt innewerden, dass ich, der HERR, euer Gott bin.“ Gott lässt sich vom Murren nicht beeindrucken. Er bleibt seinem Volk treu und geht mit seinem störrischen Volk den Weg durch die Geschichte.

Ganz in dieser Tradition steht auch die heutige Schriftstelle bei Johannes. Eben hat Jesus erzählt, dass Gott möchte, dass niemand zugrundgeht und ewiges Leben verheißen. Eben hat er versprochen, dass niemand mehr Hunger und niemand mehr Durst haben muss, wenn man das Leben ihm anvertraut. Und schon geht das Gemurre los: Die Zuhörer stoßen sich daran, dass Jesus, dessen Eltern sie noch dazu kennen, sich selbst mit dem himmlischen Brot identifiziert. Natürlich sehnen sie sich nach ewigem Leben und Stillung aller Sehnsüchte. Aber so??!!

Jesus geht auf diese Gründe nicht ein. Er reagiert weder zornig noch beleidigt. Er empfiehlt bloß, das Murren einzustellen und erneuert dann nochmals seine Zusage: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Er entspannt die Situation. Er fordert keinen Glauben, kein Bekenntnis. Stattdessen beschreibt er, wie es möglich wird, seinen Worten Vertrauen zu schenken: Nicht durch Anstrengung, nicht durch Leistung, nicht durch Ausblendung des Verstandes. Gott selbst führt die Menschen zu ihm. Und das kann man lernen: Jesus zitiert die Propheten, die gesagt haben, dass alle Menschen Schüler Gottes sein werden. Niemand muss von heute auf morgen etwas glauben, das ihm nicht nachvollziehbar ist. Aber wer übt, auf Gott zu hören, kann seinen Weg zu Jesus finden. Die Worte Jesu können entlasten. Allein das Murren einzustellen, das ist nötig.

Bedeutet das: Glaubensaussagen darf man nicht mehr kritisch begegnen? Heißt das: Protest und Widerstand sind verboten?

Ich denke nein. Die ganze Bibel erzählt, wie die Geschichte Gottes mit den Menschen von Konflikt, Widerstand und Ungehorsam gegen Gott durchzogen ist. Der jüdische Schriftsteller Elie Wiesel schreibt: Das Judentum ist die einzige Religion, in der man mit Gott streiten darf. Warum nicht auch das Christentum? Die Bibel erzählt auch davon, dass Gott sich durch menschlichen Widerstand umstimmen lässt. Man erinnere sich an Abraham, Jakob oder Hiob, die mit Gott erfolgreich verhandeln und streiten. Vor allem aber erzählt die Schrift von der unendlichen Geduld Gottes, der sich durch all diese Widerstände nicht davon abbringen lässt, sein Heil mit diesem Volk zu verwirklichen. Streiten mit Gott ist Ausdruck einer überaus lebendigen Beziehung mit ihm.

Aber streiten und widerständig sein unterscheiden sich von dem, was „murren“ in der Bibel beschreibt: Wer streitet, steht in enger Beziehung zum Streitpartner. Wer murrt, entzieht sich dieser Beziehung. Wer streitet, tut dies MIT dem Anderen. Wer murrt, tut dies GEGEN ihn. „Murren“ ist kein Ausdruck einer lebendigen Beziehung, sondern geradezu das Gegenteil: Es ist Ausdruck eines Beziehungsabbruches. Wer murrt, schaut nur mehr auf sich selbst und ist blind für das, was sich vor seinen Augen ereignet. Wer innerlich grollt, verliert den Kontakt zur Wirklichkeit. Er misst diese Wirklichkeit ausschließlich an den eigenen Vorstellungen. Wenn das Heil nicht so kommt wie vorgestellt, dann gilt es nichts. Weder die Befreiung aus der Sklaverei noch die Verheißung ewigen Lebens zählen vor dem Murrenden. Vor allem macht das Murren unfähig dazu, sich auf etwas Neues einzulassen, etwas Neues von und mit Gott zu lernen. Hier: Zu lernen, dass Jesus das Brot des Lebens ist.

"Murrt Nicht!" Das ist kein ethischer Appell. Es ist die Empfehlung, eine Haltung zu entlernen, die dabei hindert, Gottes Wirklichkeit wahrzunehmen, auch wenn sie sich vielleicht nicht so zeigt, wie erwartet. Dies ist die spirituelle Voraussetzung, sich auf Neues einzulassen.