Roman von Marjana Gaponenko
Wer ist Martha?
"Ich muss in Demut gestehen, dass ich eine besondere Liebe oder eine besondere Verehrung älteren Menschen entgegenbringe. Ich weiß, dass wir alle alt werden, dass wir alle sterben müssen, und es ist einfach so, dass man nicht nur physisch geboren wird, sondern auch geistig", sagt die Autorin über ihre Motivation zu diesem Roman.
8. April 2017, 21:58
Eine solche Persönlichkeit hat Marjana Gaponenko in den Mittelpunkt ihres neuen Romans mit dem geheimnisvollen Titel "Wer ist Martha?" gestellt. Luka Lewadski heißt ihr Protagonist, ein Ornithologe aus Kiew, der das stolze Alter von 96 Jahren erreicht hat. Nun aber wird ein Lungenkarzinom diagnostiziert und Lewadski erkennt, dass seine Zeit abläuft. Marjana Gaponenko hat in ihrem Roman auch ihre eigenen Schwierigkeiten mit dem Tod einfließen lassen - Schwierigkeiten, die sie seit frühester Kindheit begleiten:
"Für mich war dieses Phänomen, dieses Gesetz der Natur, von Kindesbeinen an unbegreiflich. Dass der Mensch alles vermag und dass er hilflos gegen den Tod ist, dass dagegen kein Kraut gewachsen ist, das war vernichtend. Und ich habe als kleines Mädchen sehr mit dem Tod gehadert, mit diesem Phänomen, und auch jetzt kann ich es auch nicht fassen."
Alle Annehmlichkeiten
Ein schweres, ein melancholisches Thema also, das die Autorin freilich mit bezaubernder Leichtigkeit angeht: Lewadski beschließt, die ihm noch verbleibende Zeit so luxuriös wie möglich zu verbringen. Er reist nach Wien und steigt im noblen Hotel Imperial ab, in einer Suite, die alle nur denkbaren Annehmlichkeiten bietet. Sogar ein Butler namens Habib steht Lewadski zur Verfügung, umsorgt ihn und philosophiert mit ihm über das Leben, den Tod, die Vögel oder die Frage, ob Kinder ihre Eltern übertreffen müssen. Lewadski genießt den Aufenthalt in vollen Zügen und selbst seine Krankheit scheint sich wenigstens vorerst zurückzuhalten.
Zitat
Viel Zeit zum Vergessen blieb Lewadski nicht mehr übrig. Laut Diagnose müsste es ihm dreckig gehen. Starker Gewichtsverlust, Nachtschweiß, Fieber, Schwächegefühl – aber außer Herzrasen, das Lewadski wie einen Jugendlichen befiel, wenn er in seiner Elisabeth-Suite von Fenster zu Fenster ging oder die Kleinode des Zimmerinventars bewunderte, ließen alle diese Symptome auf sich warten. Das Herz allerdings meldete aus der Brusttasche von Lewadskis Schlafanzug unbändige Freude an den schönen Dingen, Freude und Lust, Schönheit zu schauen wie das lichte Angesicht Gottes. Schönheit trotz des ekelhaften Verfalls seines Körperinstituts, Schönheit trotz Hässlichkeit und gerade deswegen. Schönheit.
Schräger Vogel Alter Ego
Im Aufzug des "Imperial" lernt Lewadski den ebenfalls recht betagten Herrn Witzturn kennen und bald freunden sich die beiden an. Sie besuchen gemeinsam ein Konzert und sitzen gern in der Hotelbar, wo sie ihre Vergangenheit voreinander ausbreiten, die politischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts rekapitulieren oder sich mit erfrischender Unverfrorenheit über die anderen Gäste lustig machen-
"Herr Witzturn ist auch ein ganz schräger Vogel und er ist Lewadskis Alter Ego, sein Doppelgänger", erklärt Gaponenko. "Und manchmal denke ich, dass sie wirklich sehr zynisch und anmaßend sind, so wie sie da sitzen in der Hotelbar und sich selbst verspotten und die anderen nicht schonen, aber der ist genauso wie Lewadski ein Mann von tiefer Humanität und auch sehr gläubig, obwohl er das nicht zugibt."
Dabei ist Marjana Gaponenko gar nicht sicher, ob es Herrn Witzturn tatsächlich gibt - oder ob er vielleicht nur in Lewadskis Phantasie existiert: "Ich glaube, dass er doch alleine war in dieser Bar. Jetzt, nach anderthalb Jahren, habe ich das Gefühl, dass er die Zeit allein verbracht hat. In der Einbildung, er hätte einen Freund."
Doppelbödiges Spiel
Überhaupt erweist sich der Roman als ein doppelbödiges Spiel. Mit Charme und Eleganz verfolgt die Autorin die Wege ihres Protagonisten und auf den ersten Blick erscheint der Text schmeichlerisch und einfach. Bei genauerem Hinsehen jedoch offenbart sich eine zweite Ebene, die Ebene der Motive, der Gedanken, der großen Fragen des Lebens. So ist es etwa kein Zufall, dass Lewadski ausgerechnet Ornithologe ist, so Gaponenko:
"Ich habe von Anfang an gewusst, dass mein Protagonist ein gebildeter Mann ist. Er muss gebildet sein, ein Mann von Welt, groß an Geist, und da kamen die Vögel sehr gelegen. Vor allem musste er bescheiden und demütig sein, im Angesicht der Natur. Und da bieten sich die Vögel sehr gut an. Als Vision. Und dann habe ich auch festgestellt, dass diese Vögel für viele versunkene Kulturen Boten des Unsichtbaren waren und dass das Volk früher ganz fest daran geglaubt hat, dass die Seele als Vogel in den Himmel kommt und sich erhebt, und für die ersten Christen waren Vögel Engel, und darum muss Lewadski etwas mit diesen Tieren zu tun haben."
Wer ist Martha?
Das alles ist umso beeindruckender, als die Ukrainerin Marjana Gaponenko nicht in ihrer Muttersprache Russisch schreibt, sondern sich mit großer Freude in den Tiefen und Untiefen des Deutschen verliert. Alles andere wäre, wie sie sagt, für sie viel zu einfach:
"Es macht einfach ewig viel Spaß, sich selbst von der Seite zu sehen oder der Illusion zu verfallen, dass ich mich selbst von der Seite höre oder sehe, wie ich jetzt dieses Denken erkämpfe, wie ich überhaupt ticke, wie sie alle zustande kommen, diese Prozesse. Und wie ich zur Sprache komme. Das kann ich in meiner Muttersprache gar nicht realisieren, weil sie mir gegeben wurde."
Herausgekommen ist ein gewandter, eloquenter und liebenswerter Roman, in dem Marjana Gaponenko großes Einfühlungsvermögen und eine ebenso große Zuneigung zu ihren Figuren beweist. Hinter der fast spielerischen Fassade verbergen sich allerdings einige Geheimnisse und Rätsel, wie etwa die schon im Titel gestellte Frage nach Martha. Und tatsächlich: Wer ist denn nun eigentlich Martha?
"Um das Ganze noch geheimnisvoller zu machen: Es gibt zwei Marthas", so Gaponenko. "Die eine Martha war eine herausragende Persönlichkeit - wenn auch kein Mensch, und sie betritt das Leben meines Protagonisten am Tage seiner Geburt. Und sie hinterlässt auch Spuren. Aber es gibt noch eine andere Martha, und diese zweite Martha, sie ist auch sehr wichtig aber ich möchte nicht zu viel verraten. Martha ist nur ein Zeichen, ein Symbol für etwas; und wofür sie ein Symbol ist, das wird der verehrte Leser selbst herausfinden."
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Marjana Gaponenko, "Wer ist Martha?", Suhrkamp
Suhrkamp - Wer ist Martha?