Roman von Julya Rabinowich
Die Erdfresserin
Dialogfetzen, immer neue Anläufe einer Befragung nach Herkunft und Vergangenheit, sind den ersten Kapiteln vorangestellt, und in den assoziativen Erinnerungen, die sie in Gang setzen, schälen sich erst nach und nach die Konturen einer Lebensgeschichte heraus.
8. April 2017, 21:58
Als zu schwierig haben etliche Juroren und Jurorinnen beim vorjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis daher den Roman "Die Erdfresserin" von Julya Rabinowich qualifiziert. Das zeigt freilich eher, an welch simplen Erzählstrategien die Kritik mittlerweile Maß nimmt, als dass es ein ernst zu nehmender Einwand gegen das Buch wäre. Denn seine Sprache hat eine solche Suggestivkraft, dass man den Mäandern der Erinnerung dieser Diana, die es aus Dagestan nach Wien verschlagen hat, gerne folgt.
Und man wird reichlich dafür belohnt, denn Diana ist eine Intellektuelle mit Blick für die Details, für Gesten, Körper und Mentalitäten, und was sie mit aggressiver Genauigkeit über die Kehrseite der Wiener Gemütlichkeit, über bauliche Veränderungen in Warschau oder über ihre Kindheit in der Sowjetunion von sich gibt, ist eine Fundgrube an Zeitdiagnosen und Denkimpulsen.
Gegenwart und Erinnerung
"Wenn ich über das Wiener Pflaster gehe, denke ich oft an den Weg bis zum Haus meines Vaters", sagt Diana am Beginn eines Kapitels. Gegenwärtige Wahrnehmung und Erinnerung an Kindheit und Jugend sind ständig miteinander verschränkt. Es sind keine guten Erinnerungen, die da hochkommen: an die Mutter, die brutal zuschlagen konnte und mit ihrer Tochter nie jene hingebungsvolle Zärtlichkeit fand, mit der sie die Schwelle des Hauses wusch; und an den rätselhaft verschwundenen Vater, den sie, die Vater-Tochter, schmerzlich sucht und vermisst.
"Waren Sie denn nie verzweifelt?", wird Diana in einem der Dialoge gefragt. Antwort: "Das muss man sich leisten können." Diana kann es sich nicht leisten, denn sie hat einen geistig behinderten Sohn, der teure Medikamente braucht; und ihre Mutter wie ihre Schwester, die zu Hause für ihn sorgen, sind auf Dianas Geld angewiesen, um das Haus, das einmal das größte und schönste des Ortes war, heizen und instand halten zu können.
Mit allen Wassern gewaschen
Diana ist ausgebildete Regisseurin, aber als solche findet sie keine Arbeit, von der sie leben kann, also zieht sie auf verschlungenen Wegen gen Westen und verdient ihr Geld als Sex-Arbeiterin. Sie ist mit allen Wassern gewaschen und taugt nicht als Mitleidsobjekt. Und sie hat klare Diagnosen über sich selbst, etwa diese:
Zitat
Ich habe es noch nie geschafft, auf die Lüge zu verzichten, auf die Täuschung, ich bin zu schwach, mit offenen Karten zu spielen, ich bin zu stark, um unterzugehen, jetzt noch nicht.
Sie darf nicht untergehen, denn der Sohn und die Mutter brauchen sie - oder besser gesagt: ihr Geld. Und Diana ist in beständiger Treue und ebenso beständigem Hass mit ihnen verbunden.
Einmal wäre sie fast untergegangen - als sie in einem Lokal am Gürtel von der Polizei aufgegriffen wurde. Doch nach einer brutalen "Amtshandlung" ließ der Polizist sie laufen - der dicke, im Grunde hilflos-gutmütige und abergläubische Polizist Leo musste an diesem Tag einfach eine gute Tat verrichten - für sein Karma. Draus wird eine symbiotische und ambivalente Partnerschaft, von der auch Dianas Freundin, die Schauspielerin Nastja, profitiert - sie verdient Geld, indem sie für Leo die Wahrsagerin spielt. Dianas Leben beruhigt sich nicht, aber für kurze Zeit ist sie wenigstes in Sicherheit. Für kurze Zeit, denn Leo wird schwer krank und stirbt.
Durch die Erde wühlen
Im zweiten Teil des Romans befindet sich Diana in der Klinik; nach Leos Tod hatte sie einen Zusammenbruch. Jetzt ist auch endgültig klar: Die Dialoge des ersten Teils waren Gesprächsfetzen aus den Therapiesitzungen mit dem Psychiater. In der Klinik ist Diana vor der Abschiebung sicher, doch von Zuhause erhält sie bedrängende Nachrichten: Der Sohn ist, da ohne Medikamente, gewalttätig geworden und wird in der psychiatrischen Klinik festgehalten - in Dagestan kann das lebensbedrohlich sein. Und der Mutter ist das Geld ausgegangen, obwohl sie bereits ihren Schmuck verpfändet hat.
Diana bricht aus und will sich nach Hause durchschlagen. Aber sie verliert zunehmend die Orientierung - nicht nur im geografischen Sinn. Als ihr der Körper immer mehr die Gefolgschaft verweigert, überkommt sie die Lust, sich durch die Erde zu wühlen - wofür sie als Kind von der Mutter mit schwerer Misshandlung bestraft wurde. Und Diana, die das vierte Romankapitel mit dem Satz "Ich habe immer schon auf Rituale aller Art gepfiffen" eröffnete, vollzieht jetzt ein geradezu mythologisches Ritual: in einer Art umgekehrtem Beerdigungsritus lässt sie aus der Erde den Golem auferstehen, jenen künstlichen Menschen, um den sich das Buch des verschwundenen Vaters dreht, das er der Mutter gewidmet hat.
Die Kraft der Fantasie
Hier kann man natürlich fragen, ob die Romanfigur Diana nicht überfrachtet ist mit diesen Bezügen und ob sie nicht künstlich hinauskatapultiert wird aus den unausweichlichen Folgen der fremdenfeindlichen österreichischen Gesetzgebung. Würde der Roman sie - wie viele Menschen in der Realität - daran zerbrechen lassen, wäre sie am Ende wahrscheinlich trotz ihrer Sprache und der Genauigkeit ihres Blickes nichts anderes als eine bemitleidenswerte Gestalt. Doch im Golem-Ritual wird sie noch einmal zur Regisseurin und entfaltet die ganze Kraft ihrer Imagination.
Damit wird kein künstlicher Deus ex machina in Szene gesetzt, denn Dianas neuer Golem und die in ihn gesetzten Hoffnungen sind auf Schritt und Tritt als Produkte ihrer irrlichternden Phantasie, ihrer Krankheit erkennbar. Aber sie ist aufrecht auch in diesem Untergang. Sie bleibt aktiv: "Ich gehe. Ich gehe. Gehe. Gehe." sind ihre letzten Sätze am Romanschluss.
Kein Zweifel: Mit dieser Diana ist Julya Rabinowich eine außerordentliche Figur gelungen. Ihren fulminanten Erzähl-Monolog kann wohl nur eine schreiben, die selbst jahrelang bei vielen Gesprächen mit Therapeuten gedolmetscht hat. Und so präzise die Erfahrung des Fremd-Seins aussprechen kann vermutlich nur jemand, der wie Julya Rabinowich selbst diese Erfahrung gemacht hat. Dennoch entsteht Diana in ihren Dialogen nicht nur stimmig und detailgenau, sondern auch irritierend und befremdlich. Die Autorin hat eben nicht Realität abgekupfert, um sie im Roman zu verdoppeln, sondern mit allen Registern ihrer Erzählkunst eine real-imaginäre Frauenfigur geschaffen, die zu den stärksten der letzten Jahre zählt. Und sie hält damit wie nebenbei der österreichischen Gesellschaft und Politik einen Spiegel vor, den diese dringend braucht.
Service
Julya Rabinowich, "Die Erdfresserin", Deuticke im Paul Zsolnay Verlag
Hanser - Die Erdfresserin