Gegenstände erzählen Geschichte

1900 - Der Aktenordner

Ein einfacher Aktenordner führt uns heute in die Vergangenheit, und zwar ins Jahr 1900, denn damals gab es einige einschneidende Veränderungen, an denen der Aktenordner nicht ganz unschuldig war.

In dieser Zeit entwickelte sich der Handel zum Welthandel, erklärt Wolfgang Pensold, zuständig für den Bereich Medien und Kommunikation im Wiener Technischen Museum. Dadurch sei relativ viel Korrespondenz-Aufwand entstanden. Außerdem habe sich der moderne Verwaltungsstaat entwickelt. "Es entstanden Kranken- und Unfallversicherung, Rentenversicherung ist dann dazugekommen, auch dafür gab es viel Verwaltungsaufwand."

Der Bonner Unternehmer Friedrich Soennecken hatte den Briefordner 1886 erfunden, zusammen mit einem dazu passenden Locher, der später mit dem griffigen Werbespruch "Klein oder groß - lochen famos!" unters Volk gebracht wurde. Seine heute bekannte Form bekam der Aktenordner kurz darauf von Louis Leitz, weshalb man bis heute auch vom Leitz-Ordner spricht.

Legionen von Schreibmaschinen

Aus den USA sind aus der damaligen Zeit Bilder von riesigen Schreibsälen überliefert. Hunderte Frauen saßen in diesen "Fabrikhallen der Verwaltung" an ihren Schreibmaschinen und erledigten Buchhaltung und Firmenkorrespondenz. Die Erfindung der Schreibmaschine lag zwar schon einige Zeit zurück, damals wurde sie jedoch erstmals in Serie gefertigt.

"Es gibt zum Beispiel die standardisierte Tastatur, die sich durchsetzt", erklärt Pensold, dadurch konnte man auf allen Schreibmaschinen tippen, auch wenn man auf einer anderen gelernt hate.

Besonders intensiv war die Korrespondenz innerhalb der Städte, zwischen den Innenstadtbüros der großen Unternehmen und den Fabriken in den Vororten. Bis zu fünf Mal am Tag wurde die Post deshalb damals ausgetragen. Und die Zeitungen gaben bis zu drei Ausgaben täglich heraus, um ihre Leser auf dem Laufenden zu halten. Getragen wurde der Fortschritt von der Bürgerschaft und der wurde damals sogar musikalisch ein Denkmal gesetzt: Carl Michael Ziehrer komponierte ihr den Marsch "Wiener Bürger".

Beginn der modernen Statistik

Kommunikation in jeder Form wurde also immer wichtiger und neue Erfindungen wurden auch von den allerhöchsten Kreisen mit Neugier willkommen geheißen. Wie etwa das Telegrafon, das vom Kaiser höchstselbst ausprobiert wurde. Die neue Erfindung habe ihn sehr interessiert und er danke sehr für die Vorführung derselben, sprach der Monarch.

Kaiser Franz Joseph II

Apropos Monarchie: Auch die machte damals einen gehörigen Entwicklungsschub durch. In Wien stieg die Einwohnerzahl von 1870 bis 1910 um mehr als das Doppelte an und sprengte sogar die 2-Millionen-Marke. Um diese Menschenmassen auch verwalten zu können, wurde eine Erfindung aus Amerika übernommen: "Die Lochkarte ist insofern revolutionär als sie ermöglicht, im Rahmen einer Volkszählung die ausgezählten Ergebnisse nach verschiedenen Kriterien zu sortieren," so Pensold. "Das ist im Grunde genommen die Geburtsstunde der modernen Statistik."

Ganz neue Wege beschritt damals auch die Wissenschaft. Sigmund Freud veröffentlichte 1900 seine "Traumdeutung" und sehr wahrscheinlich hat auch er die unzähligen Patientenprotokolle, die er darin aufgearbeitet hat, in Aktenordnern gesammelt.