Kunst muss provozieren
Die "Café Sonntag"-Glosse von Gunkl
Kunst muss provozieren - stimmt das? Provocare, von wo sich der Begriff ja herleitet, ist ein lateinisches Wort und bedeutet "hervorrufen". Insofern wird man sagen: ja, Kunst muss etwas hervorrufen.
8. April 2017, 21:58
Gunkl
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Zumindest bei dem, an den sich das Kunstwerk wendet, weil wenn das Werk nur völlig wirkungsfrei ist, ohne irgendetwas zu bewirken, dann ist es keine Kunst.
Nur, das ist "evozieren". Das Provokationsrecht, im alten Rom war das das Recht des einzelnen Bürgers, sich gegen Todes- oder Prügelstrafen, die ein Staatsbeamter verhängt hat, aufzulehnen. Also das Recht des Einzelnen gegen die Staatsgewalt. Provokation ist also ein Widerspruch.
Muss Kunst provozieren? "Die Kunst der Fuge", von Johann Sebastian Bach, das ist ein Werk, dem niemand den Kunstcharakter absprechen wird, und dieses Werk ist in keinerlei Widerspruch zu irgendwas. Dieses Werk stellt sich allen Regeln, die zu Gebote stehen, mannhaft, und erfüllt diese Regeln in einem atemberaubenden Ausmaß. Also hier wird kein Widerspruch gegen irgendwas manifestiert oder formuliert, sondern das ist absolut regelkonform und insofern von jeder Provokation weit, weit weg. Also, Kunst muss nicht provozieren.
Nun ist es aber so, dass Provokation kein notwendiges Kriterium ist für Kunst, aber nicht einmal ein hinreichendes Kriterium, weil gibt ja viele Provokationen, die von Kunst weit, weit weg sind. Kunst darf provozieren. Das auf jeden Fall. Zunächst einmal im binnenkünstlerischen Rahmen, also man darf Tabus brechen, nur, es ist halt so, im Mittelstandswesten, in unserem Übereinkunftskatalog, gibt's eigentlich kein Tabu mehr, das irgendwie erkennbar ist als solches, weil jedes Tabu schon zig mal gebrochen worden ist und eine eingestürzte Mauer noch einmal umzurennen bringt nichts, also das kann man eigentlich bleiben lassen.
Man kann Regeln brechen, man darf Regeln brechen, in der Kunst - nur da sollten einige Kriterien erfüllt sein. Nämlich, der Künstler muss wissen, dass er eine Regel bricht. Er muss wissen, wie diese Regel lautet, und er muss wissen, wozu diese Regel in der Welt ist. Und dann braucht er einen guten, formulierbaren Grund, warum er diese Regel bricht. Wenn das alles gewährleistet ist, darf er jede Regel brechen. Wenn er "nur so" eine Regel bricht, weil sie eine Regel ist, ohne zu wissen, warum, oder ohne zu wissen, was er jetzt genau macht, halte ich das für hochgradig problematisch.
Wenn wir jetzt den binnenkünstlerischen Rahmen verlassen und mal anschauen, was denn die Kunst außerhalb der Welt der Kunst macht - wie schauen da die Provokationen aus - muss man sagen, auch hier darf die Kunst provozieren, denn Kunst lebt ja von Zuschreibung und Bedeutung, und die Zeichensetzung und die Übereinkünfte, die wir in der Welt haben, die darf man sich unter künstlerischen Gesichtspunkten einmal anschauen und dann semantisch abklopfen und dort, wo es einem geboten scheint, Widerspruch einlegen.
Das, was wir bei uns so an Übereinkünften haben, ist zum Beispiel: Kunst darf ohnehin alles. Also hier eine Provokation vom Stapel zu reißen, ja, kann man schon, nur, da hat der Künstler nichts zu befürchten. Also man provoziert in Wahrheit nichts. Man provoziert ein Stirnrunzeln des Bildungsbürgertums, ein Naserümpfen bei Kaffeekränzchen oder irgendwelchen Besprechungen oder Feuilletons, sonst provoziert man nichts.
Pussy Riot hingegen, die haben mit künstlerischen Mitteln Einspruch eingelegt gegen herrschende Zustände dort, wo sie daheim sind in der Welt und die haben das Resultat ihrer Provokation also wirklich massiv ausgefasst und es war zu befürchten, dass dies passieren wird oder ähnliches. Und sie haben es gemacht. Also ich möchte jetzt nicht sagen, das jeder Künstler, der provoziert, sofort eingesperrt gehört, damit er weiß, was er provoziert hat. Nur diesen, wirklich bemerkenswerten Damen gilt mein tiefster Respekt, denn die haben das, was die Kunst an Provokation "kann", wirklich knallhart durchgespielt. Respekt, muss man sagen.
Sonst kann man zu dem Thema Kunst und Provokation noch sagen: es ist in fünf Minuten nicht möglich, auch nur zu erklären, warum man das in fünf Minuten nicht erschöpfend besprechen kann.