Regis Jauffret: Roman "Claustria"

Der sogenannte Fall Fritzl hat bekanntlich 2008 wochenlang für Aufregung und Schlagzeilen in den internationalen Medien gesorgt. Jetzt hat ein französischer Autor das Geschehen in Amstetten zu einem Roman verarbeitet, der heute auf Deutsch erscheint.

Morgenjournal, 12.09.2012

Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, wann der Fall Fritzl, der wochenlang die Weltpresse auf Trab gehalten hatte, als Filmsujet oder Romanvorlage ausgeschlachtet werden würde. Man musste auf das Schlimmste - Stichwort Voyeurismus - gefasst sein. Im Jänner kam nun in Frankreich "Claustria" heraus. Ein Buchtitel, der sich aus den Worten Klaustrophobie und Austria zusammensetzt. Doch Régis Jauffret, ein mehrfach preisgekrönter Autor, der sich immer wieder mit Neurosen und Psychosen in Familien beschäftigt hat, hat die Voyeurismus-Falle vermieden.

Er selbst beschreibt seine Arbeit an diesem Roman mit den Worten: "Ich habe dabei an Platons Höhlengleichnis gedacht, also eine Gruppe von Menschen, die in einer Grotte angekettet sind und von der Realität nur Schatten sehen. Umgekehrt sahen sie in diesem Fall alles von unserer Wirklichkeit durch das Fernsehen. Die drei Kinder, die man da herausgeholt hat, waren ja 19, 18 und fünf Jahre alt. Sie sind in dem Keller geboren und niemals herausgekommen, sie hatten nie das Tageslicht gesehen. Durch das Fernsehen wussten sie alles von uns. Der 5-jährige hat gesagt, er sei froh, heraußen zu sein, denn da könne er endlich in ein Auto steigen. Das hat mich an diesem Fall berührt."

Er beschreibt Fakten und zeichnet den Alltag

Mehrere Jahre hat Régis Jauffret akribisch recherchiert. Er schaffte es, dem Prozess beizuwohnen, war mehrmals in Amstetten und konnte auch heimlich das Kellerverlies besichtigen. Er hat mit unzähligen Menschen gesprochen: Polizisten, Ärzten, Anwälten und Menschen aus Fritzls Nachbarschaft.

Auf die Frage, was die treibende Kraft gewesen ist, antwortet er: "Wir sind hier in einer Geschichte, die in die Menschheitsgeschichte eingegangen ist. Das ist in der Menschheitsgeschichte etwas noch nie Dagewesenes: Menschen, die in einem Keller auf die Welt gekommen sind. Denn Inzest allein, also, dass ein Vater seine Tochter schwängert, ist leider etwas, was immer wieder vorkommt."

Régis Jauffret hat die Ergebnisse seiner Recherchen als Roman verarbeitet. Allerdings vermeidet er das Sensationslüsterne und beschreibt mit der Präzision eines Ermittlers - ohne zu kommentieren oder zu moralisieren. Er beschreibt Fakten und zeichnet den Alltag der Gefangenen im Keller nach: die Enge, die Kälte oder exzessive Hitze, den Gestank, aber auch die regelmäßige Angst zu verhungern, denn mit der Nahrungsbeschaffung und der Möglichkeit, den Strom abzudrehen, war Fritzl Herr über Leben und Tod.

Blick zurück und in die Zukunft

Bei seinen Recherchen hat Jauffret auch Ungereimtheiten festgestellt: etwa, dass der Keller doch nicht schalldicht war, und er fragt naturgemäß, warum niemand in der Nachbarschaft je etwas bemerkt haben will und reagiert hat. Warum die Behörden Fritzls Version der dreimaligen Kindesweglegung durch seine verschwundene, angeblich zu einer Sekte übergetretenen, Tochter nicht hinterfragt haben - Kinder, die er dann in seinem Haus mit seiner Frau aufgezogen hat.

Auf über 500 Seiten nimmt Régis Jauffret als Erzähler unterschiedliche Standpunkte ein und schreibt auf unterschiedlichen Zeitebenen. Es gibt Rückblicke, aber auch die imaginierte Zukunft der Opfer, aber auch des Täters. "Claustria" ist ein hochinteressantes, spannendes Buch. Allerdings wird der Autor sich die Frage gefallen lassen müssen, warum er in dem Fall Fritzl, nach der Kampusch-Affäre, auch etwas typisch Österreichisches sieht.

Service

Régis Jauffret, "Claustria",
Verlag Lessingstrasse 6

Am 24. September 2012 liest Régis Jauffret im Rabenhof Theater aus seinem Roman "Claustria".

Rabenhof - Literatursalon im Gemeindebau