Über Marx und Marxismus
Wie man die Welt verändert
Der Historiker Eric Hobsbawm hat sich einen Namen gemacht als Experte für die Arbeiterkultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Nun liegt von dem mittlerweile 95-Jährigen ein neues Buch vor, eine Aufsatzsammlung mit dem Titel "Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus".
8. April 2017, 21:58
Bernstein gegen Lenin - so hieß das große Match am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Trat der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein für einen reformistischen Weg in Richtung Sozialismus ein - mit strikter Beachtung parlamentarisch-demokratischer Spielregeln - setzte der russische Adelsspross Vladimir Illjitsch Lenin auf Gewalt und revolutionären Terror. Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Siegeszug des globalisierten Kapitalismus seit den 1980er Jahren haben beiden Konzeptionen den Garaus gemacht, stellt Eric J. Hobsbawm in seinem Buch mit sentimenalitätsloser Sachlichkeit fest. Denn nicht nur der Kommunismus sei den Weg alles Irdischen gegangen, auch der demokratische Flügel der internationalen Arbeiterbewegung - genannt Sozialdemokratie - sei, gemessen an früheren Ansprüchen, nicht mehr als ein lebender Leichnam.
Niedergang der Sozialdemokratien
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Auch die bernsteinianische Sozialdemokratie wurde in den letzten Jahrzehnten hinweggefegt. Das hängt mit mehreren Faktoren zusammen. Zum einen schrumpfte die Klasse der Handarbeiter in den Kernländern des Kapitalismus sowohl in relativen wie in absoluten Zahlen. Zum zweiten kamen in den 1980er Jahren rechtsradikale nationalistische Parteien auf, die für Wähler aus der Arbeiterklasse durchaus attraktiv waren, insbesondere in Frankreich (angeführt von Jean-Marie Le Pen) und in Österreich (angeführt von Jörg Haider). Zudem untergrub der enorme Wohlstandszuwachs in den reichen Konsumgesellschaften, von dem auch die Arbeiterklasse profitierte, die Grundüberzeugung, eine wirklich Verbesserung für den einzelnen Angehörigen der Arbeiterklasse lasse sich allein durch Solidarität und kollektives Handeln erreichen... Damit einhergehend verloren der Marxismus und die sozialdemokratische Linke dramatisch an Bedeutung, und sowohl bei Arbeitern wie Studenten setzte eine allgemeine Entpolitisierung ein.
1983 bis 2008: in dieser historischen Phase sei die Arbeiterbewegung des Zwanzigsten Jahrhunderts von den Mühlsteinen der Geschichte zermalmt worden, postuliert Hobsbawm. Die Auflösung des fordistischen Paradigmas, die Flexibilisierung der Arbeitswelt, die kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus - Stichwort: Shareholder Values - all das hätte in den entwickelten Ländern des Westens eine breite gesellschaftliche Entsolidarisierung mit sich gebracht.
Nicht nur die kommunistischen Diktaturen seien in den 80er Jahren zusammengebrochen, auch die Sozialdemokratie in Westeuropa habe Jahrzehnte des kontinuierlichen Niedergangs hinter sich. Von der Erreichung des Sozialismus als politisches Fernziel sprechen heute nicht einmal mehr die störrischsten Linken in der SPÖ; dass sich ASKÖ und Naturfreunde, altehrwürdige Säulen der sozialdemokratischen Lebenskulturbewegung in Österreich, demnächst aus der Partei verabschieden wollen, passt ins Bild.
Nur mehr leere Hüllen
Die österreichische, die deutsche, die britische und niederländische, vor allem auch die ruhmreiche schwedische Sozialdemokratie sind nur mehr leere Hüllen, Traditionsverwaltungsparteien mit reichem Erbe und - gemessen an früheren Ansprüchen - trostloser Gegenwart.
Dann aber kam das Jahr 2008. Im Crash der Lehman-Brothers und der darauf folgenden Weltfinanzkrise ortet Hobsbawm ein neues historisches Moment.
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Der plötzliche finanzielle Kollaps rehabilierte den Staat als Wirtschaftsakteur, als sich sowohl Unternehmer als auch Arbeiter mit der Bitte an ihre Regierungen wandten, zu retten, was von den nationalen Industrien noch übrig war.
Auch wenn die demokratischen Arbeiterbewegung, die den Höhepunkt ihrer Macht Hobsbawm zufolge in den 1970er Jahren erreicht hat, europaweit in der Defensive ist: Hobsbawm diagnostiziert eine Renaissance altbekannter Fragestellungen.
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Wir haben wieder gemerkt, dass der Kapitalismus nicht die Antwort, sondern die Frage ist.
Dabei darf man die Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts im reminiszierenden Überschwang auch nicht stärker machen als sie war: Zu keinem Zeitpunkt bekannten sich in irgendeinem Land Westeuropas wesentlich mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung zu den Zielen der sozialdemokratischen und/oder reformkommunistischen Linken, wie Hobsbawm mit leidenschaftsloser Nüchternheit festhält.
Fazit
Trotz erhellender Einsichten dann und wann: Im Großen und Ganzen ist Hobsbawms Buch eine Enttäuschung. Vielleicht liegt es daran, dass der Hanser-Verlag den Band überverkauft hat - mit poppigem Che-Guevara-Cover und dem bombastischen Titel "Wie man die Welt verändert - Über Marx und den Marxismus".
Dabei besteht der Band zum überwiegenden Teil aus Aufsätzen, die Hobsbawm in den 70er und 80er Jahren für eine mehrbändige Marxismus-Edition des Enaudi-Verlags geschrieben hat, ergänzt durch Texte und Essays, die der Doyen der marxistischen Geschichtswissenschaft in Großbritannien für diverse Tagungen und Kongresse zu Papier gebracht hat.
Zudem lesen sich die meisten Texte uninspiriert und schnell heruntergeschrieben. Das gilt auch für jene Passagen, die sich mit dem angeblichen Comeback des Marxismus nach dem Ende des marktradikalen Paradigmas beschäftigen.
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Der Marx des 21. Jahrhunderts wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein völlig anderer sein als der des 20. Jahrhunderts.
Das mag schon sein, aber man würde es gern genauer wissen. Dass Marx an Aktualität gewinne, behaupten ja viele, von Liessmann bis Eagleton, aber was das konkret bedeuten könnte, welches historische Subjekt etwa im digitalisierten Kapitalismus etwa an die Stelle der alten, organisierten Arbeiterbewegung treten könnte und auf welche Weise sich die Marxsche Arbeitswerttheorie, um ein anderes Beispiel zu nennen, im Lichte der modernen Informationsgesellschaft interpretieren ließe - auf Fragen wie diese bleibt Hobsbawm eine Antwort schuldig. Stattdessen: volltönende Phrasen.
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Wirtschaftlicher und politischer Liberalismus, jeder für sich oder im Zusammenspiel, können die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht lösen. Es ist wieder einmal an der Zeit, Marx ernst zu nehmen.
Was er damit konkret meint: darüber gibt Eric J. Hobsbawm keine Auskunft.
Service
Eric Hobsbawm, "Wie man die Welt verändert": Über Marx und den Marxismus, aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn und Thomas Atzert übersetzt, Hanser Verlage
Hanser Verlage - Wie man die Welt verändert