Hohe Haftstrafen gegen Armeeoffiziere

Ein Gericht in der Nähe von Istanbul hat gestern 220 Offiziere der türkischen Armee zu Haftstrafen zwischen 13 und 20 Jahren verurteilt. Ihnen wird vorgeworfen, im Jahr 2003 einen Putsch gegen die islamisch-konservative Erdogan geplant zu haben. Ein Plan, der nicht umgesetzt wurde. Was aber das Gericht nicht davon abgehalten hat, die damaligen politischen Widersacher Erdogans hart zu bestrafen.

Morgenjournal, 22.9.2012

Die Offiziere müssen zwischen 13 und 20 Jahre ins Gefängnis. Und zwar für einen Militär-Putsch, den sie angeblich geplant, aber nie verwirklicht haben. Ziel dieses Putschversuchs soll im Jahr 2003 die Regierung von Recep Tayip Erdogan gewesen sein, der damals zum ersten Mal an die Macht gekommen war. Jetzt ist Erdogan wieder Regierungschef, und viele sehen in den harten Strafen einen Racheakt, Strafen, mit denen viele der Offiziere nicht gerechnet haben.

Geplanter Staatsstreich 2003

Als die 365 Angeklagten das Gerichtsgebäude betraten um das Urteil zu hören, wurden sie von Angehörigen und Anhängern mit Applaus begrüßt. Die wollten offenbar nicht glauben, dass ein Putsch, der nie stattgefunden hat, zu so hohen Strafen führen könnte. Doch wenige Stunden später kam das Urteil: 20 Jahre für zwei pensionierte Generäle und einen pensionierten Admiral. Was in Anbetracht ihres Alters lebenslang bedeuten könnte. Und Strafen zwischen 15 und 18 Jahren für über 220 weitere Angeklagte.

Viele der Angehörigen brachen in Tränen aus, eine Frau erlitt einen Nerven-Zusammenbruch, eine andere fiel in Ohnmacht.

Die Offiziere werden für schuldig befunden, vor 10 Jahren einen Staatsstreich gegen die damals gerade erst gewählte Regierung Erdogan geplant zu haben. Ob das wirklich so war, wie der Staatsanwalt es behauptet, darüber gehen in der Türkei die Meinungen auseinander. Die Beweise wirken teilweise konstruiert. Zahlreiche Ungereimtheiten ließen sich bis zum Schluss nicht
ausräumen. Und dass die Entscheidung des Gerichts getroffen wurde bevor die Anwälte ihr Plädoyer halten konnten, wird von Gegnern der Regierung
als Beweis dafür gesehen, dass es dem Gericht nicht um Fakten ging, sondern darum, dem Militär einen Dämpfer zu versetzen.

Andererseits besteht kein Zweifel daran, dass die Offiziere, die heute verurteilt wurden, von Anfang an erbitterte Gegner der islamisch-konservativen Regierung waren. Dreimal hatten die türkischen Militärs seit den Sechziger-Jahren tatsächlich geputscht, einmal mit einem Ultimatum eine religiös geprägte Koalitionsregierung zum Rücktritt gezwungen. Es ist also nicht weit hergeholt, dass sie sich im Jahr 2003 darüber Gedanken gemacht haben, wie man Erdogan loswerden könnte.

Erdogan sagt New York-Reise ab

Aber ob sie wirklich vorhatten, vollbesetzte Moscheen zu sprengen, um einen Bürgerkrieg auszulösen, und das alles noch dazu in einer Power-Point-Präsentation genau aufgelistet haben, daran gibt es doch Zweifel. Seit damals hat sich der Wind gegen das türkische Militär gedreht. Erdogans Regierung sitzt fest im Sattel, Verwaltung und Justiz sind in der Hand der Islamisten. Die Mehrheit der Türken wünscht nicht die Rückkehr von Generälen an die Macht.

Entsprechend gelassen hat der sonst meist so emotionale Regierungschef die Urteile kommentiert. Er kenne die genaue Urteilsbegründung noch nicht, sagte Erdogan in einer ersten Reaktion. Aber in jedem Fall könnten die Verurteilten ja an den Obersten Gerichtshof appellieren.

Und doch hat es Erdogan vorgezogen, seine geplante Reise nach New York abzusagen. Denn auch wenn ihm die Demütigung der Generäle Genugtuung
bereiten sollte – mitten im Krieg gegen die kurdische PKK kann der Regierungschef nicht riskieren, das Militär zum Gegner zu haben.